Was empfindet ein Chirurg, der über Wochen hinweg jeden Tag Doppelamputationen von zerschossenen Beinen vornehmen muss? Oder ein Soldat im Schützengraben, der nicht weiß, ob er den nächsten Tag erlebt? Und wie gehen Menschen in Krisen- und Kriegsgebieten mit diesen Gefühlen um? Mit diesem Thema beschäftigt sich Madeleine Rauch, Ethnografin und Professorin an der Universität Cambridge. Der SÜDKURIER hat sie bei einem Besuch in der Heimat getroffen.

Die 36-Jährige aus Markelfingen begibt sich für ihre Recherchen selbst mit Fotoapparat und Aufnahmegerät in Krisengebieten an Ort und Stelle. Sie hat unter anderem Ärzte und Krankenschwestern in Kliniken in Afghanistan und im Jemen sowie in Flüchtlingscamps im Irak bei ihrer Arbeit beobachtet.

Sie war schon mit den Ärzten ohne Grenzen unterwegs

Die junge Frau lebt dann während einer Mission mit den Einsatzkräften über mehrere Wochen in einem Zelt, begleitet sie zu den Visiten und spricht als Teil des Teams auch mit Patienten.

Im Vordergrund ihrer Feldforschung stehen aber die Helfer. „Man kann die Extremsituationen, in denen sie arbeiten, nicht verstehen, wenn man nicht selbst dort gewesen ist“, sagt Madeleine Rauch. Das sei viel eindrücklicher, als außerhalb der Einsatzgebiete mit ihnen nur darüber zu sprechen.

So war die Wissenschaftlerin bereits mehrmals mit den Ärzten ohne Grenzen unterwegs. Sie wollte wissen, warum die Mediziner ihre Freizeit in Krisengebieten verbringen, und wie ihre Tätigkeit aussieht, bei der sie oft ohne Strom arbeiten, mit fehlender Hygiene zurechtkommen und viel improvisieren müssen.

Nur jeder Zweite geht wieder in den Einsatz

Die freiwilligen Helfer möchten die Welt besser machen und müssen oft feststellen, dass ihr Beitrag sehr gering ist, hat Madeleine Rauch beobachtet. „Nur jeder Zweite geht noch einmal in einen Einsatz“, weiß sie. „Viele haben das Gefühl, ohnehin wenig bewirken zu können.“ Sie retten durch die Amputationen zwar das Leben eines Menschen, aber eine Nachsorge bei der Wundheilung oder Prothesen gibt es in der Regel nicht.

Über den emotionalen Stress in solchen Extremsituationen wird am Ende des Tages meistens nicht gesprochen, die Einsatzkräfte wollen das Erlebte hinter sich lassen. Sie unterdrücken oft ihre Gefühle, um fokussiert zu bleiben und pflegen stattdessen lieber Smalltalk, hat Rauch herausgefunden. Sie nennt das die „Kultur des Schweigens“.

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500 Tagebücher ausgewertet

Über den emotionalen Teil ihrer Arbeit schreiben die Helfer dann in ihren Tagebüchern. „Die sind eine perfekte Datenquelle“, sagt die gebürtige Konstanzerin.

Mehr als 500 anonymisierte Journale von Ärzten, Krankenschwestern, UN-Friedenstruppen und Soldaten hat die Wissenschaftlerin für ihre Studien ausgewertet. Tagebücher seien ein ausgezeichnetes Mittel zur Selbsthilfe, hat sie festgestellt. Aus ihren Forschungsergebnissen lassen sich aber nicht nur Handlungsempfehlungen ableiten, um Stresssituationen besser zu verarbeiten.

An der Universität Cambridge unterrichtet die Markelfingerin die Fächer „Strategy & International Business“ mit Schwerpunkt auf ...
An der Universität Cambridge unterrichtet die Markelfingerin die Fächer „Strategy & International Business“ mit Schwerpunkt auf gesellschaftliche Verantwortung, Werte und Ethik. | Bild: privat

Madeleine Rauch gibt ihre Erkenntnisse auch an der Judge Business School in Cambridge weiter, wo sie die Professur „Strategy & International Business“ innehat. Sie unterrichtet die gleichnamigen Fächer mit Schwerpunkt auf gesellschaftliche Verantwortung, Werte und Ethik.

Sie selbst ist seit ihrem achten Lebensjahr bei den Pfadfindern, was sie nach eigenem Bekunden sehr geprägt hat. In ihrer ersten Jahresaktion bei der Jugendorganisation, die die soziale und gesellschaftliche Entwicklung junger Menschen fördern will, ging es 1994 um den Völkermord in Ruanda: In gut drei Monaten töteten Angehörige der Hutu-Mehrheit etwa 75 Prozent der in Ruanda lebenden Tutsi-Minderheit.

Früher wollte sie Lehrerin werden

Unter anderem diese Erfahrung hat sie für das Thema sensibilisiert, wie Menschen mit Krisen und Katastrophen umgehen. Am liebsten beschäftigt sie sich mit Themen, die die Menschen bewegen und damit, Lösungen zu finden und etwas zum Besseren zu verändern.

Und dafür begibt sie sich selbst in Extremsituationen. Ihren ersten Einsatz bei den Vereinten Nationen (UN) hatte sie 2017 mit dem World Food Programme.

Bei ihrer Feldforschung hält Madeleine Rauch ihre Erkenntnisse auch mit der Kamera fest.
Bei ihrer Feldforschung hält Madeleine Rauch ihre Erkenntnisse auch mit der Kamera fest. | Bild: privat

Ihre Lieblingsfächer in der Schule waren Deutsch und Englisch. „Ich habe sogar eine Zeitlang überlegt, Lehrerin zu werden“, gesteht sie lachend. Nach ihrem Master im englischen Nottingham promovierte sie 2018 in Frankfurt (Oder) über Strategie und Management, bevor sie als Feldforscherin und Professorin an die Business School in Kopenhagen wechselte.

Woody Powell, renommierter Soziologe an der Stanford-Universität, fand ihre Forschung spannend und holte sie für drei Jahre nach Kalifornien. Vor einem Jahr wechselte sie nach Cambridge.

Am Bodensee flüchtet sie aus der Welt

An den Bodensee zurückzukommen, ist für sie eine Flucht aus der Welt, sagt sie. „In dem Moment, in dem ich in Zürich lande, später in den Seehas nach Markelfingen steige, beginnt die Entspannung. Hier bin ich immer noch das kleine Mädchen, das immer ein Buch dabeihatte.“

Auch heute verbringt die Wissenschaftlerin ihre Freizeit am liebsten lesend. Eines ihrer Lieblingsbücher ist „Der lange Weg zur Freiheit“ von Nelson Mandela. Ein weiteres Hobby der 36-Jährigen ist das Joggen. Ihr erster Halbmarathon führte sie über die Golden Gate Brücke in San Francisco.

Stille am Bodensee entspannt

Als sehr entspannend empfindet sie es außerdem, mit der Autofähre von Konstanz nach Meersburg zu fahren, dort ein Eis zu essen und über den See zurückzukehren.

Im Haus ihrer Eltern am Bodensee gelinge ihr auch das Arbeiten am besten, sagt sie. „Weil es so unglaublich still ist.“ Sie sitzt dann am gleichen Schreibtisch, an dem sie als Jugendliche für die Schule gelernt hat.