Der 9. November 1938 war auch im Südwesten ein prägendes Ereignis. 60 der 151 damals im Gebiet des heutigen Baden-Württemberg genutzten Synagogen wurden am 9. und 10. November 1938 zerstört. 77 Synagogen wurden laut Landeszentrale für politische Bildung schwer demoliert und geplündert, nur 15 überstanden das Pogrom unzerstört.
An vielen Orten in Baden-Württemberg wird in diesen Tagen daran erinnert: In Konstanz und in Überlingen werden Stolpersteine geputzt, Mahnwachen werden in Konstanz und Singen abgehalten, in Villingen-Schwenningen wird eine Gedenktafel für die Holocaust-Opfer enthüllt. Konstanz‘ Oberbürgermeister Uli Burchardt, der auch bei der Stolperstein-Aktion mitmacht, sagt: „Es wird in Konstanz keinen Platz für Antisemitismus geben. Das ist ganz egal, wo der herkommt oder wie der begründet ist.“

Am Donnerstagabend bringt er den Stolperstein vor dem Konstanzer Rathaus zum Glänzen. Dieser erinnert an Hans Venedey, SPD-Politiker und Konstanzer Stadtrat, der sich 1933 gegen das Hissen der Hakenkreuzflagge aussprach, da er darin das Symbol des Antisemitismus erkannte. Jüdisches Leben gehöre in Konstanz selbstverständlich dazu, sagt Burchardt. Und: „Wir sind in diesen sehr, sehr schwierigen Wochen bei den Menschen in Israel und auch bei den Leuten, die hier unter uns Leben und vielleicht Angehörige verloren haben oder deren Angehörige in Angst leben.“
Davidsterne an Häusern, Flaggen zerstört
Ruth Frenk zählt zu den prominenten jüdischen Köpfen in Südbaden. Die Gesangpädagogin, die seit bald 50 Jahren in Konstanz lebt, ist Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Konstanz e.V. und Vorsitzende der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Bodensee-Region. Für sie ist der 9. November immer ein trauriger Tag. „In diesem Jahr ist er besonders traurig, weil wir das schlimmste Pogrom seit dem Holocaust zu beklagen haben.“

Seit dem Angriff der palästinensischen Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober hat in Deutschland die Zahl judenfeindlicher und antiisraelischer Vorfälle stark zugenommen. Der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, verweist auf 2000 Straftaten, die das Bundeskriminalamt (BKA) seit dem 7. Oktober im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt gezählt habe. In Berlin malten Unbekannte Davidsterne auf Häuser, in denen Juden wohnen. Auch in Baden-Württemberg werden gehisste israelische Flaggen zerstört.
„Ich bin nicht so schnell einzuschüchtern“
Der wachsende Antisemitismus besorgt auch Ruth Frenk: „Viele fühlen sich nicht mehr sicher“, ist ihre Beobachtung. Freunde ließen sich die „Jüdische Allgemeine“ aus Angst nur noch im Umschlag in den Briefkasten stecken. In Freudental im Kreis Ludwigsburg wurde aus Sorge um die beteiligten Kinder ein Konzert des Centrums Ehemalige Synagoge Freudental abgesagt.
Die 77-Jährige selbst hat jedoch keine Angst. „Ich bin nicht so schnell einzuschüchtern.“ Gerade hat sie eine Lesereise in Ostdeutschland unter Polizeischutz absolviert, bei der sie ihre Memoiren „Bei uns war alles ganz normal“ vorstellte. Schlechte Erfahrungen hat sie aber keine gemacht – auch nicht in Konstanz, wo sie seit 1974 lebt. „Wir leben hier in einer Blase, Gott sei dank“, sagt die Konstanzerin. Trotzdem bemängelt sie, dass die Polizei zu wenig einschreite, wenn auf Demos pro Palästina „Free Palestine“ geschrien werde.
In Konstanz fühlen sie sich sicher
Das Gedenken an die Shoa steht an diesem Novembertag nicht für alle Juden in Deutschland im Vordergrund. Die Gedanken von Minia Joneck, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Konstanz, dominiert derzeit etwas anderes. Als Jugendliche hat sie in Israel gelebt, heute noch hat sie Familie dort. Die israelischen Nachrichten verfolgt sie täglich. Israel überschatte gerade alles. Das Gedenken an die Shoa ist ein wenig in den Hintergrund getreten – relevant sei es eher, weil die schrecklichen Dinge heute die Israelis an den Holocaust erinnern.
Auch die 75-jährige Joneck fühlt sich sicher: „Wir sind hier in Südbaden ein wenig im Abseits – und das ist gut so. Ich bin persönlich noch nie angegriffen worden. Im Gegenteil.“ Dass der Konstanzer Gemeinderat sich solidarisch erklärt hat mit dem Kampf der Israelis, freue sie. „Man hört und liest viel, dass Juden bedroht werden. Das kann einen schon beunruhigen, aber das ist nicht meine wesentliche Stimmungslage.“