Das letzte Wort war doch noch nicht gesprochen, als eine junge Frau mit einem schwarzen Kopftuch um 9.35 Uhr den Saal betritt. Die Reihen sind voll. Alle Augen lasten auf ihr, der Schwester des Mannes, der erschossen und zerstückelt wurde. Dass die junge Frau noch erscheinen würde, stand erst vergangene Woche fest. Das Visum kam doch noch.

Die Frau nimmt neben ihrer Anwältin und einem Dolmetscher Platz, ehe dann der Mann in den Saal gebracht, wieder mit Mütze und Maske, dem sie in die Augen schauen wollte: ein 58-jähriger Mann aus Maulburg.

Jede Nacht ein Stich ins Herz

Als die Schwurgerichtskammer am Montag in Waldshut-Tiengen um den Vorsitzenden Richter Martin Hauser Platz nimmt, wird noch kein Urteil verkündet. Erst darf die Frau sprechen, die aus Tunesien anreiste. Unter Tränen sagt Zouleikha Bin Nasr, wie sehr sie und ihre Familie schockiert sind, dass mit ihm ein Teil von ihr beerdigt worden sei. Mahdi sei mehr als ein großer Bruder für sie gewesen. Jede Nacht habe sie das Gefühl, dass jemand kommt und ihr mit einem Messer ins Herz sticht.

Die Schwester des Opfers war dankbar, doch noch am Prozess teilnehmen zu können. Vor dem Gerichtsgebäude in Waldshut-Tiengen zeigte sie ...
Die Schwester des Opfers war dankbar, doch noch am Prozess teilnehmen zu können. Vor dem Gerichtsgebäude in Waldshut-Tiengen zeigte sie ein Bild ihres erschossenen Bruders. | Bild: Durain

Später wird sie vor dem Gericht sagen, dass sie dankbar sei, an dem Verfahren noch teilzunehmen. Die Beratungsstelle Leuchtlinie hatte sie dabei unterstützt. Zum Urteil sagte sie, dass das Gericht alles getan habe, um diesen Fall aufzuklären. Wichtig war ihr, dass festgestellt wurde, dass von ihrem Bruder kein Angriff ausgegangen sei.

„Hier entscheidet nicht die Antifa!“

Stunden vorher ist die Stimmung im Saal angespannt. Viele Freiburger Aktivisten sind im Saal, sie fordern Gerechtigkeit für das Opfer, und sehen in dem Angeklagten einen Rassisten, der durch einen unlauteren Deal zu milde davon kommen werde.

Als der Angeklagte sich erhebt, um sich unter Tränen erneut für seine Tat zu entschuldigen und um Vergebung zu bitten, schallt es aus der Zuschauerreihen: „Prozesstaktik!“ Hauser duldet das nicht – und greift durch. „Über dieses Verfahren entscheidet immer noch ein unabhängiges Gericht und nicht die Antifa!“ Eine Person steht auf und geht.

Richter: Kein „schmutziger Deal“

Dann, weit nach 10 Uhr, verkündet das Gericht seinen Schuldspruch: Der 58-Jährige wird wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und zehn Monaten verurteilt. Er bleibt in Haft. Der Richter wird in den folgenden 90 Minuten erklären, warum es in diesem Verfahren keinen „schmutzigen Deal“ zulasten der Gerechtigkeit gegeben habe. Dem Urteil ging eine Verständigung zwischen Gericht, Staatsanwaltschaft, Verteidigung und dem Angeklagten (nach 257c StPO) voraus, das Urteil beruhe aber nicht darauf.

In diesem Haus im Hotzenwald lebte Mahdi Bin Nasr zuletzt. In dieser Asylunterkunft starb er am frühen Abend des 23. Dezember. Hinter ...
In diesem Haus im Hotzenwald lebte Mahdi Bin Nasr zuletzt. In dieser Asylunterkunft starb er am frühen Abend des 23. Dezember. Hinter den Bäumen, einen kleinen Hang hinab, liegt die Ferienunterkunft. | Bild: Durain/ PP Freiburg

Die Verständigung sei aber durch diverse Medien skandalisiert worden, so Hauser. Man habe eine Verständigung getroffen, nachdem die Ehefrau des Angeklagten ausgesagt hatte. Alle übrigen Zeugen der Familie hätten von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht. Und das sei auch ihr gutes Recht.

Die Verständigung habe auch keine Auswirkung auf die Höhe der Strafe. Und das sei schon gar kein Grund, ihn als Neonazi-Freund zu diffamieren, erklärt Richter Hauser.

Später betont er auch deswegen: „Mahdi Bin Nasr war ein Mensch, der gelebt hat.„ Was er für einer war, sei für die Bewertung des Tatvorwurfs ohne Bedeutung. Jeder Mensch habe Rechte und seine Würde. Egal, ob er Tunesier, Schweizer oder Deutscher ist. Man habe sich mit ihm befasst, um die Angaben des Angeklagten zu prüfe – auch mit der Frage, ob er aus niederen Beweggründen handelte, weil der Tote Muslim gewesen war?

Viele offene Fragen, auch nach Urteil

Ja, räumt Hauser ein, es gebe noch offene Punkte, es gebe aber kein Aufklärungsdefizit. Es sei nicht auszuschließen, dass er nicht allein war, als die Schüsse fielen. Es sei denkbar, dass er jemanden deckt. Das bleiben aber alles Spekulationen, denen sich das Gericht nicht anschließen dürfe.

Im Verfahren wurde bekannt, dass der Angeklagte an einer Hundehütte einen „Wolfsschanze“-Schriftzug angebracht hatte und am Carport „Deutsches Schutzgebiet“ stand. Zudem wurde er abgemahnt wurde, weil er bei einer Fortbildung sagte, „Ein richtiger Deutscher kauft nicht bei Juden“.

Er sei laut Gericht zwar sicher niemand, der Einwanderung als Chance begreife oder es begrüßen würde, dass heute mehr Muslime in Deutschland leben. Eine rechtsradikale Überzeugung habe man nicht feststellen können. Viele Zuhörer im Saal sehen das anders.

Was ist an Weihnachten 2023 nun passiert?

Die Kammer glaubt, dass Mahdi Bin Nasr am Nachmittag des 23. Dezember 2023 den 58-Jährigen und dessen Angehörige auf dem Parkplatz des Ferienhauses sah, in das sich die Familie für die Weihnachtsfeiertage eingemietet hatte.

Bin Nasr soll die Gäste grundlos beleidigt haben, als „Nazis“ oder „Scheißdeutsche“. Der Angeklagte sei auf die Provokation angesprungen, sei zurück ins Haus und habe sich seine Waffe geholt. Der 58-Jährige hatte getrunken und habe eine „histrionische Persönlichkeitsstruktur‘. Das bedeutet, der Angeklagte habe ein starkes Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Anerkennung und zeige oft dramatische Reaktionen.

Hinter dem Rollladen lebte Mahdi Bin Nasr. Und hier kam es zur Eskalation.
Hinter dem Rollladen lebte Mahdi Bin Nasr. Und hier kam es zur Eskalation. | Bild: Durain

Der Angeklagte beobachtete den Tunesier dann dabei, wie dieser zu Abend aß und fluchte, während er mit dem Besteck rumfuchtelte. Als Bin Nasr den 58-Jährigen draußen sah, sei er hinausgelaufen, wo sich die Männer gegenseitig beschimpften. Dann ging Bin Nasr zurück in seine Wohnung, der Angeklagte hinterher. Weil er glaubte, der Tunesier hole ein Messer, drückte er ab, als er im Eingangsbereich der Unterkunft stand.

Keine Spur hätte ihn wohl überführt

Die sterblichen Überreste wickelte er später in Maschendraht und warf sie an verschiedene Stellen in den Rhein. Dieses Spurenverwischen, dürfe man nicht strafverschärfend berücksichtigen, erklärte Hauser. Das habe der BGH klargestellt.

Viele Wochen war das Haus in Rickenbach polizeilich versiegelt. Was hier vorgefallen ist, wurde auch durch das LKA untersucht. Die ...
Viele Wochen war das Haus in Rickenbach polizeilich versiegelt. Was hier vorgefallen ist, wurde auch durch das LKA untersucht. Die Ermittler nahmen eine 3D-Vermessung des Tatorts vor. | Bild: Durain

Der nicht vorbestrafte Maulburger habe sich gestellt. Ein „Geständnis dieser Güte“ wiege sehr schwer bei der Strafzumessung. Es gab keine objektiven Spuren, die ihn hätten überführen können. Die Schuhe, mit denen er in der Blutlache einen Fußabdruck hinterließ, sind bis heute nicht gefunden worden. Die Waffe, zu denen er die Ermittler führte, hätte man ohne ihn nicht gefunden. Die Reue und die Erschütterung nehme man ihm ab, auch wenn er zunächst kaum Einsicht in sein Unrecht zeigte.

Die Familie des Toten sei derweil schon im Juni über die Möglichkeit einer Nebenklage informiert worden. Die Korrespondenz mit dem Präsidium in Freiburg führte allerdings eine andere Schwester des Toten. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.