Ein lauer Sommerabend in Hilzingen. Das Zentrum des Nachbarorts von Singen mit Rathaus und schmucker Barockkirche wirkt beinahe ausgestorben. Doch aus den Fenstern eines Gebäudes unweit der Kirche, dem Pfarrer-Geißler-Haus, dringen Stimmen: Marguerite Staller, Philipp Matton sowie Anja Böer sitzen hier mit Pfarrer Thorsten Gompper und Gemeindereferentin Simone Meisel zusammen.

Mehr als zwei Monate sind vergangen, seit sich die drei in der Osternacht haben taufen lassen und damit der katholischen Kirche beigetreten sind. Jetzt treffen sie sich, um sich auszutauschen. Der Schritt, zu dem sich die beiden Frauen und der junge Mann entschieden haben, wirkt mehr als außergewöhnlich.
Ende Juni ging eine Schockwelle durch die katholische Kirche in Deutschland: Sie musste einen neuen Rekord bei den Kirchenaustritten verzeichnen. 359.338 Menschen haben 2021 die Kirche verlassen, rund ein Drittel mehr als im Vorjahr. Eingetreten sind nur 1.465 Menschen.

Diese Zahlen spiegeln sich auch auf lokaler Ebene wider, etwa im Dekanat Hegau, zu dem die Gemeinde Hilzingen gehört. „Wenn uns das Standesamt mitteilt, dass jemand austritt, schreiben wir der Person einen persönlichen Brief. In der Woche unterschreibe ich vier bis fünf solcher Briefe“, erklärt Dekan Matthias Zimmermann.
Damit summiere sich die Zahl der Kirchenaustritte allein in seinem Dekanat pro Jahr im Schnitt auf rund 250. Im Gegensatz dazu würden pro Jahr etwa zehn bis 20 Leute im Hegau in die Kirche neu eintreten, indem sie die Erwachsenentaufe empfangen.
„Ich bin sehr herzlich empfangen worden“
Axel Steenaerts ist ausgetreten. 1982 war das, erzählt der 64-Jährige auf der Terrasse seines Hauses in Engen. Nach der Ausbildung zum Industriekaufmann und Bundeswehrdienst habe er eine Stelle bei Aldi gefunden. „Ab dem Moment habe ich super viel Geld verdient und super Abzüge über die Kirchensteuer gehabt.“
Und diese Abzüge seien auch der ausschlaggebende Grund für seinen Austritt gewesen. „Ich bin schon sehr monetär eingestellt“, sagt der gebürtige Bad Saulgauer in breitem schwäbischen Dialekt und lacht.
Schwer gefallen ist Steenaerts diese Entscheidung nicht. „Ich konnte mit der Kirche damals nicht viel anfangen.“ Auch zuhause bei den Eltern habe sie keine große Rolle gespielt.
Doch 2019, 27 Jahre nach seinem Austritt, ist Steenaerts der katholischen Kirche wieder beigetreten. „Am 30. Mai war das, Christi Himmelfahrt. Im Gegensatz zu damals, als ich als Kleinkind getauft worden war, war es jetzt meine bewusste Entscheidung.“
Im Jahr zuvor war Steenaerts „in eine Depression gerutscht“, wie er selbst sagt. Nach langjähriger Tätigkeit als Geschäftsführer sei er aus seiner damaligen Firma ausgeschieden, weil er sich beruflich neu orientieren wollte. Doch das klappte nicht wie gedacht. „Ich konnte nix mehr machen, war antriebslos, habe oft mit mir gehadert. Es ging rauf und runter.“
Über ein Jahr habe das angehalten. Auf eine Psychotherapie und von seinem Arzt verschriebene Antidepressiva verzichtete er nach langem Überlegen. „Ich habe versucht, selber das Ding hinzukriegen.“ Geholfen habe ihm dabei seine Frau, ein Mittel auf Naturbasis, der Familienhund – und die Männertankstelle.
Durch einen Bekannten war er auf das Angebot der Seelsorgeeinheit Engen-Mühlhausen-Ehingen-Aach aufmerksam geworden, das Männern offen steht. Einmal im Monat treffen sie sich in der Autobahnkapelle bei der Raststätte Hegau-West, zum Singen, Beten und Gespräch. „In diesem Kreis kann ich sein, wie ich bin. Kann alles sagen, ohne, dass es kommentiert wird.“
Wege in die katholische Kirche
Die Männertankstelle könne mit ein Grund für seinen Wiedereintritt gewesen sein. „Ich dachte mir: Jetzt gehe ich in die Kirche, nutze deren Einrichtungen und nutze die Männertankstelle. Aber ich mache es, ohne Mitglied zu sein, ohne einen Beitrag zu leisten.“
Da war aber noch etwas anderes, das seine Rückkehr zur Kirche einleitete, folgt man Steenaerts Schilderungen. So erzählt er gleich zu Beginn des Gesprächs von den Besuchen beim kranken Vater seiner zweiten Ehefrau in Vorarlberg. „Und natürlich ist man am Sonntagmorgen zusammen in die Kirche, davor zum Rosenkranzbeten. Für mich war das meditativ.“
Allgemein habe er es immer geliebt, an Feldkreuzen zu stehen oder kleine Kapellen aufzusuchen, wenn er in seiner Freizeit mit dem Rad unterwegs war. „Ich bin begeisterter Radsportler und unterwegs habe ich mich schon immer viel mit Gott unterhalten, über alles, was mich so beschäftigt hat“, sagt Steenaerts, der diesen Austausch mit Gott als eine Art Selbstgespräch umschreibt.
„Ich habe gespürt, dass Gott bei mir ist“
Von so einer Verbindung zu Gott, berichtet rund eine Woche zuvor auch Anja Böer im Pfarrer-Geißler-Haus in Hilzingen, als sie sich mit den anderen beiden frisch Getauften trifft. Die 37-jährige Altenpflegerin ist in der Nähe von Chemnitz aufgewachsen. Einzig über Verwandte hatte sie gewisse Berührungspunkte zur evangelischen Kirche. „Aber ich hatte schon immer den Gedanken, dass es etwas gibt, und das Gefühl, dass mir etwas im Leben fehlt. Als Kind war ich oft krank und habe auf kindliche Art zu Gott gesprochen.“
Was ihr während der Kindheit gefehlt hat, fand Böer schließlich im Südwesten der Republik. 2007 zog sie mit ihrer Mutter nach Gottmadingen, eine Nachbargemeinde Hilzingens. Ein Jahr später starb ihre Mutter. „Das war eine sehr harte Zeit“, erinnert sich die 37-Jährige, die inzwischen in einer anderen Gemeinde im Umkreis von Hilzingen wohnt.
Halt fand sie in der Familie ihres ersten Ehemannes. Vor allem dessen Schwester und Mutter hätten ihr und ihrer heute elfjährigen Tochter damals geholfen, zurechtzukommen. Auch, als ihre Ehe zuerst kriselte und dann in die Brüche ging.

Durch ihre Ex-Schwiegermutter, die Böer als „sehr katholisch“ beschreibt, sei sie in Kontakt mit der Kirche gekommen. „Sie hat mich ab und an mitgenommen nach Überlingen, wo sie in der katholischen Gemeinde aktiv ist.“ Sie habe das Gefühl gehabt, endlich das gefunden zu haben, wonach sie suchte. „Ich habe gespürt, dass Gott bei mir ist.“ Das habe sich auch auf ihre Tochter übertragen, die genauso getauft sei wie ihr kleiner Sohn, den sie mit ihrem neuen Partner hat.
„Für mich habe ich die Entscheidung immer wieder hinausgezögert.“ Doch als die Taufe ihres Sohnes anstand, änderte sich das. „Jetzt ist alles stimmig, meine Beziehung ist auch super.“
Und so machte sie sich mit zwei anderen Erwachsenen gemeinsam auf den Weg zur Erwachsenentaufe, die in der Osternacht stattfand. Böers Patinnen: Ihre Ex-Schwiegermutter und die Mutter ihres jetzigen Partners.
„Ich bin aufgestanden und habe gesagt, jetzt werde ich getauft“
Mit Böer zusammen empfing auch Marguerite Staller in der Nacht von Karsamstag auf Ostersonntag die Taufe sowie gleichzeitig Erstkommunion und Firmung, wie bei katholischen Erwachsenentaufen üblich. Der Weg in den Schoß der Kirche verlief für Staller aber anders.
Denn eigentlich war sie während ihrer Kindheit und Jugend im westafrikanischen Guinea schon Teil davon, ging in Gottesdienste. „Bei uns in Afrika sind fast alle meiner Ethnie Christen“, sagt Staller mit französischem Akzent. Doch viele in ihrer Familie seien nicht getauft gewesen – und andere entweder katholisch oder evangelisch. Eine einzige Konfession kannte ihre Familie nicht.
Anders war das bei ihren drei Kindern, die inzwischen alle erwachsen sind. Anfang der 1990er-Jahre lernte sie ihren späteren Ehemann kennen, mit dem sie später in den Raum Hilzingen zog. „Als meine Kinder katholisch getauft wurden, habe ich mir gedacht, ich werde mich auch mal taufen lassen. Aber die Zeit war noch nicht da.“
Vor sieben Jahren dann, als ihr Mann starb, habe ihr der Glaube viel Kraft gegeben. „Der damalige Pfarrer war bei uns, hat uns bis zum Ende begleitet, und mein Mann war immer ruhig, wenn er da war. Da habe ich gemerkt, dass was da war, dass Gott da war.“ Damals habe für sie erneut festgestanden, dass sie sich taufen lassen wolle.
„Wie kannst du eigentlich?“
Auch Philipp Matton beschreibt seinen Entschluss, in die Kirche einzutreten als „plötzlich“, er könne ihn „nicht auf ein bestimmtes Ereignis zurückführen“. Mit zehn Jahren kam er mit seiner Familie aus Dresden nach Hilzingen und wohnt seit einiger Zeit auch wieder dort. „Ich wusste aber schon in meiner Jugend, dass ich mich irgendwann taufen lasse“, sagt der heute 31-jährige Polizist. Und dass, obwohl Kirche und Glaube in seinem Elternhaus nie eine große Rolle gespielt hätten.
„Die ersten Berührungspunkte hatte ich in der Grundschule in Hilzingen, als ich und ein anderer Schüler jeweils das Klassenzimmer verlassen haben, wenn Religionsunterricht war.“ Später habe sein Freundeskreis vor allem aus gläubigen Menschen bestanden, die teilweise auch Freikirchen angehörten. Und er fügt an, dass er sich wohl auch aus Neugier und einer Art Trotz gegenüber der nicht-religiösen Verwandtschaft mit Gott und dem Glauben beschäftigt habe.

Auf seinem weiteren Lebensweg habe er Höhen und Tiefen durchlebt, „da war einiges dabei“ – und immer habe ihn der Glaube an Gott gestärkt, auch wenn er weder in Gottesdienste gegangen sei noch die Bibel gelesen habe.
Vor einem Jahr circa trennte sich Matton von seiner damaligen Partnerin. Er zog auf einen Hof von Freunden bei Hilzingen. „Sie haben mich dann mitgenommen in die Kirche.“ Am Rande der Gottesdienste lernte er Pfarrer Gompper kennen und sein Wunsch, sich taufen zu lassen, verfestigte sich.
Teilweise, so sagt Matton, werde ihm im Kollegenkreis schon das Gefühl gegeben, er müsse sich erklären, weil er in die Kirche eingetreten ist. „Aber ich finde, dass ich mich da nicht rechtfertigen muss, will keine Energie darauf verschwenden. Ich kann die Dinge, die ich erlebt habe, teilweise auch nur schwer in Worte fassen.“