Sebastiano G., den seine Freunde nur „Bacetto“ nennen, was so viel wie „Küsschen“ heißt, wurde einmal von einem Familienmitglied scherzhaft als faul beschrieben: Der 48-Jährige wache früh am Morgen auf, trinke einen Kaffee und gehe dann wieder ins Bett.

Doch in einem von der Polizei abgehörten Gespräch in seinem verwanzten Audi A3, der im November 2018 zwischen Überlingen und Amsterdam unterwegs war, prahlte Bacetto gegenüber seinem Bruder und Neffen damit, dass er im Jahr 400.000 Euro netto verdienen würde.

So könnte Sebastiano „Bacetto“ G., der Kopf der deutschen Mafia-Zelle in Überlingen, Seelfingen und Baden-Baden, aussehen.
So könnte Sebastiano „Bacetto“ G., der Kopf der deutschen Mafia-Zelle in Überlingen, Seelfingen und Baden-Baden, aussehen. | Bild: Claudio Capellini/IrpiMedia/OCCRP

Er sagte, man brauche „Eier“, um das zu erreichen, was er in Deutschland geschafft habe. „Niemand hat mir geholfen, das aufzubauen. Wer sonst außer mir könnte das machen?“, fragte der mutmaßliche Mafiosi.

In seinem Umfeld spielte sich die groß angelegte Anti-Mafia-Aktion „Operation Platinum“ ab: 800 Polizisten und Steuerfahnder schwärmten am 5. Mai frühmorgens aus, um 87 Wohn- und Geschäftsräume in Überlingen, Radolfzell, Baden-Baden sowie weiteren Orten von Norddeutschland bis Süditalien zu durchsuchen – der SÜDKURIER hatte ausführlich berichtet.

Zahlreiche Einsatzfahrzeuge parkten am 5. Mai 2021 frühmorgens auf dem Landungsplatz in Überlingen, um in einem Gebäude mit Wohnungen ...
Zahlreiche Einsatzfahrzeuge parkten am 5. Mai 2021 frühmorgens auf dem Landungsplatz in Überlingen, um in einem Gebäude mit Wohnungen und einem italienischen Restaurant (definitiv nicht im Gebäude Greth und dem Restaurant Allegretto, Anm.) eine Durchsuchung durchzuführen. | Bild: DIA - Direzione Investigativa Antimafia

Geheime Abhörprotokolle

Journalisten der beiden investigativen Recherchenetzwerke OCCRP ( Organized Crime and Corruption Reporting Project ) sowie IrpiMedia (Investigative Reporting Project Italy ), mit denen der SÜDKURIER im Austausch steht, konnten jüngst geheime Abhörprotokolle der Strafverfolgungsbehörden sowie umfangreiche Polizei- und Gerichtsdokumente einsehen und auswerten.

Die Ergebnisse der zwei Jahre dauernden Recherchen zeigen erstmals, wie die kalabrische Mafia 'Ndrangheta die Bodenseeregion als Stützpunkt und Drehscheibe für den internationalen Drogenhandel sowie für die Hinterziehung von Umsatzsteuer in Millionenhöhe nutzte, darunter auch den kleinen Stockacher Ortsteil Seelfingen als Wohn- und Geschäftsbasis.

An der Überlinger Seepromenade kam es am 5. Mai zu einer groß angelegten Razzia.
An der Überlinger Seepromenade kam es am 5. Mai zu einer groß angelegten Razzia. | Bild: DIA - DIREZIONE INVESTIGATIVA ANTIMAFIA

Überlingen als Mafia-Schaltzentrale?

Die Recherchen von OCCRP und IrpiMedia reichen bis ins Jahr 2010 zurück, als Bacettos Schwager Sebastiano S. zusammen mit anderen Kalabriern ein Restaurant in bester Lage an der Uferpromenade von Überlingen übernimmt, in dessen Gebäude auch Wohnungen und eine städtische Kunstgalerie untergebracht sind. Die Betreiber des italienischen Restaurants wechseln im Laufe der Jahre oft, sind aber nach bisherigen Erkenntnissen immer Teil der gleichen Clique von Italienern.

In diesem Gebäude in Überlingen sind unter anderem ein italienisches Restaurant, Wohnungen und eine städtische Kunstgalerie untergebracht.
In diesem Gebäude in Überlingen sind unter anderem ein italienisches Restaurant, Wohnungen und eine städtische Kunstgalerie untergebracht. | Bild: René Laglstorfer

Trotz seiner malerischen Lage in der Überlinger Innenstadt mit Blick auf den Bodensee wird das Restaurant eher wenig besucht und erhält im Internet überwiegend vernichtende Kritiken: „Katastrophales Essen“, „Bedienung unfreundlich“ und „Touristenabzocke“ heißt es dort.

Kein gewöhnlicher Gastwirt

Die Unzufriedenheit der Gäste und der vorletzte Platz von 62 auf der Reiseplattform Tripadvisor bewerteten Restaurants in Überlingen dürfte nicht das Hauptproblem der Betreiberfamilie rund um Sebastiano S. und seinen Schwager Sebastiano „Bacetto“ G. sein. Auch nicht die Reputation der beiden weiteren italienischen Restaurants in den Stadtzentren von Radolfzell und Baden-Baden, die laut SÜDKURIER-Informationen der Familie zuzuordnen sind.

Spuren der Durchsuchung durch die Behörden in einem italienischem Restaurant im Stadtzentrum von Radolfzell
Spuren der Durchsuchung durch die Behörden in einem italienischem Restaurant im Stadtzentrum von Radolfzell | Bild: René Laglstorfer

Ermittler der Kriminalpolizei Friedrichshafen und der Anti-Mafia-Behörde DIA in Turin sind davon überzeugt, dass es sich bei Bacetto, der seit 2012 in Italien gesucht wurde, um keinen gewöhnlichen Gastwirt handelt.

Die Wiege der 'Ndrangheta

Sie rechnen ihn einem Clan der kalabrischen Mafia-Organisation 'Ndrangheta zu, der vom Bodensee aus in den vergangenen zehn Jahren ein gut funktionierendes Netzwerk für den internationalen Drogenhandel aufgebaut haben soll – unterstützt von seinen drei Brüdern Domenico, Francesco und Giovanni G. aus der kalabrischen Bergstadt San Luca, der Wiege der 'Ndrangheta.

Gefürchtete Gefängnisbande

Die Behörden glauben, dass die vier Brüder gemeinsam Kokain in großen Mengen bei mexikanischen und kolumbianischen Kartellen in Lateinamerika aufgekauft haben. Dort, am anderen Ende der Welt, beginnt eine millionenschwere Kokain-Pipeline nach Deutschland, Italien und Europa.

Bild 6: Geheime Abhörprotokolle zeigen: Wie die Mafia vom Bodensee aus den internationalen Drogenhandel organisierte
Bild: David Hilzendegen

 

Die Kartelle aus  Mexiko  und  Kolumbien  verschieben den Stoff quer durch Südamerika. Die Reise geht über  Paraguay  und  Uruguay  nach  Peru  ,  Venezuela ,  Ecuador  und vor allem  Brasilien , wo eine gefürchtete Gefängnisbande ihre Finger im Spiel haben soll.

Bild 7: Geheime Abhörprotokolle zeigen: Wie die Mafia vom Bodensee aus den internationalen Drogenhandel organisierte
Bild: David Hilzendegen

Die Bande verschiffte die Drogen – oft über Westafrika, häufig versteckt in Bananenkisten - nach Deutschland und Europa

Bild 8: Geheime Abhörprotokolle zeigen: Wie die Mafia vom Bodensee aus den internationalen Drogenhandel organisierte
Bild: David Hilzendegen

Genauer gesagt war ihr Ziel einer der drei großen Häfen des Kontinents:  Antwerpen ,  Rotterdam  und  Hamburg .

Bild 9: Geheime Abhörprotokolle zeigen: Wie die Mafia vom Bodensee aus den internationalen Drogenhandel organisierte
Bild: David Hilzendegen

Beim Weitertransport in Lebensmittelwagen und Kühlfahrzeugen mussten die Fahrer die Routen von anderen Lebensmittellieferdiensten imitieren. Sie fuhren dabei kreuz und quer durch Deutschland nach vorgeplanten GPS-Koordinaten, ähnlich der eingezeichneten Wege, um keinen Verdacht der Polizei auf sich zu lenken. An vorher vereinbarten Orten sollen weitere Kuriere die Drogen aus den Lebensmittel-Lkws entfernt haben und in anderen Fahrzeugen nach Italien transportiert haben.

Bild 10: Geheime Abhörprotokolle zeigen: Wie die Mafia vom Bodensee aus den internationalen Drogenhandel organisierte
Bild: David Hilzendegen

Dabei sollen Lebensmitteltransporter unter anderem auch den Stockacher Ortsteil Seelfingen angefahren und Drogen transportiert haben, wie SÜDKURIER-Recherchen zeigen. Nach den Übergaben wurden die Drogen nach Italien zu Händlern und Barbesitzern in Turin, Mailand, Sardinien und Sizilien gebracht.

Bild 11: Geheime Abhörprotokolle zeigen: Wie die Mafia vom Bodensee aus den internationalen Drogenhandel organisierte
Bild: David Hilzendegen

Giuseppe T. kooperiert seit 2015 mit den Behörden und war laut diesen ein langjähriger 'Ndrangheta-Schmuggler. Dieser Insider sagte aus, dass Bacetto – ausgestattet mit einer Lizenz für den Lebensmittelhandel – einen Kühlwagen benutzt hat, um Kokain, das in Rotterdam ankam, unter Obstsendungen zu verstecken.

In Seelfingen „hielten sich nach unseren Erkenntnissen mehrere Angehörige der Tätergruppierung oder aus deren Umfeld in wechselnder Besetzung auf“, sagt Johannes-Georg Roth, Chef der Staatsanwaltschaft Konstanz dem SÜDKURIER-Reporter.

Im kleinen Stockacher Ortsteil Seelfingen haben mehrere mutmaßliche Mafiosi gewohnt und eine Lagerhalle gemietet.
Im kleinen Stockacher Ortsteil Seelfingen haben mehrere mutmaßliche Mafiosi gewohnt und eine Lagerhalle gemietet. | Bild: René Laglstorfer

Seelfinger Wohnung verwanzt

Mehrere Bewohner von Seelfingen, die alle anonym bleiben wollen, erzählten dem SÜDKURIER unabhängig voneinander, dass Sebastiano G. alias „Bacetto“ mit ein, zwei weiteren Italienern in dem kleinen Dorf eine Wohnung gemietet hatte. Auch der Stockacher Eigentümer bestätigt dies auf Anfrage: „Er hatte wohl Geld, aber hat nicht regelmäßig (die Miete, Anm.) bezahlt und war immer ein bisschen im Rückstand, sodass wir ihm hinterherlaufen mussten.“

Im März 2021 hätten die zwei, drei Italiener den Wohnsitz aufgegeben, den sie etwa fünf Jahre lang gemietet hatten, sagt der Eigentümer. Laut einer Seelfingerin treffe bis heute Post für den mutmaßlichen Mafiosi in seiner Wohnung in dem Stockacher Ortsteil ein, die jedenfalls keine Luxus-Bleibe, sondern renovierungsbedürftig war.

Dass seine Immobilie laut den Recherchenetzwerken von den Behörden verwanzt war, ahnte Bacetto Ende 2018 nicht. Deutsche Ermittler hörten mit, wie er in Seelfingen über einen Kokain-Deal mit einem Albaner und einem Rumänen gesprochen hat, die beide in Belgien leben. Bei diesem Geschäft, so vermutet die Polizei, ging es um eine Lieferung von 240 Ein-Kilogramm-Paketen Kokain.

Lebensmittellager auch für Drogenhandel genutzt?

In unmittelbarer Nähe seiner Seelfinger Wohnung hatten Bacetto und seine Komplizen ungefähr ab 2016 bis vor ein, zwei Jahren große Lagerhallen gemietet, wie SÜDKURIER-Recherchen ergaben: „Nach dem Ergebnis unserer Ermittlungen diente der dortige Standort auch dem Lebensmittelhandel, in dessen Umfeld wir ermitteln. Der Vorwurf der Hinterziehung von Umsatzsteuer knüpft unter anderem an den Verdacht an, dass Umsätze aus dem Lebensmittelhandel dem Fiskus vorenthalten wurden“, sagt Johannes-Georg Roth von der Staatsanwaltschaft Konstanz.

Auf Nachfrage sagt er, dass die Vermutung besteht, dass das genutzte Lebensmittellager in Seelfingen auch als Versteck oder Lagerplatz für Drogen gedient haben könnte.

Dr. Johannes-Georg Roth (Bildmitte), Leitender Oberstaatsanwalt Konstanz bei einer gemeinsamen Pressekonferenz der Staatsanwaltschaften ...
Dr. Johannes-Georg Roth (Bildmitte), Leitender Oberstaatsanwalt Konstanz bei einer gemeinsamen Pressekonferenz der Staatsanwaltschaften Turin und Konstanz sowie der Kripo Friedrichshafen nach den Anti-Mafia-Razzien am 5. Mai 2021. | Bild: DIA - Direzione Investigativa Antimafia

Den Ermittlern zufolge importierte Familie G. Lebensmittel aus Italien und verkaufte sie an andere italienische Restaurants in Deutschland, entweder direkt oder über Einzelhändler, wobei sie die Umsatzsteuer einfach ignorierten und offenbar illegale Gewinne nach Italien schleusten.

Einige Restaurants kauften die Lebensmittel aus Angst, wenn sie den Namen von Familie G. hörten, sagt eine Polizeiquelle. Andere kauften sie einfach, weil sie billig waren. Die Staatsanwaltschaft Konstanz schätzt den Schaden für den deutschen Staat auf bis zu zwei Millionen Euro, weshalb auch Steuerfahnder des Finanzamtes Ulm gegen mehrere Beschuldigte ermitteln.

„Cassa Comune“

Das Kokain ging laut den abgehörten Gesprächen zum Preis von 30.000 bis 48.000 Euro pro Kilo – je nach Beziehung der Käufer zu Familie G. – hauptsächlich an kalabrische Drogenhändler in Mailand, Turin, auf Sardinien und Sizilien. Einen kleineren Teil verkaufte der Clan an Barbesitzer an den gleichen Orten. In diesem Fall kletterte der Preis auf bis zu 57.000 Euro pro Kilo.

Die Familie arbeitete wie ein Unternehmen, wobei jeder der vier Brüder das verdiente Geld in die von Francesco verwaltete „Cassa Comune“ einzahlte, eine Familienkasse, die zur Finanzierung von Drogenkäufen gedient haben soll. Der wöchentliche Umsatz belief sich laut abgehörten Gesprächen auf etwa 200.000 Euro. Doch das Geschäft mit den hohen Einsätzen schien die Familienbeziehungen häufig zu belasten.

Familieninterne Vorwürfe

In einem abgehörten Gespräch mit seinem Neffen Antonio G. – ein exakt gleichnamiger Mann ist laut SÜDKURIER-Recherchen in Überlingen wohnhaft gewesen – warf Giovanni G. seinem Bruder Bacetto vor, zu viel von seinen Einkünften für sich und seine Partner in Deutschland zu behalten, während mehr in die „Cassa Comune“ hätte fließen sollen.

So stellt sich ein Künstler das Oberhaupt des mutmaßlichen Mafia-Clans vor, Giovanni G.
So stellt sich ein Künstler das Oberhaupt des mutmaßlichen Mafia-Clans vor, Giovanni G. | Bild: Claudio Capellini/IrpiMedia/OCCRP

Außerdem gab es familieninterne Vorwürfe, dass der in Überlingen, Seelfingen und Baden-Baden wohnhafte deutsche Zweig von Familie G. etwa 3000 bis 4000 Euro pro Tag „stehlen“ würde, wenn sie „arbeiten“ – ein Euphemismus für den Handel mit Drogen. Beschwerden gab es auch über die Rechtfertigung von Bacetto, er habe kein Geld für die „Cassa Comune“, weil er hohe Ausgaben für das italienische Restaurant in Überlingen zu tragen habe. Laut Anwohnern beläuft sich die Pacht auf etwa 20.000 Euro pro Monat. Viele Überlinger wundern sich seit Jahren, wie das eher wenig besuchte Restaurant die hohe Pacht bezahlen kann.

Bargeld vergraben

Das Geld, das Familie G. mit dem internationalen Drogenhandel und der Hinterziehung von Umsatzsteuer in Deutschland verdient hat, dürfte sie in der kalabrischen Heimat gut versteckt haben. In einem abgehörten Gespräch in Sardinien wies Giovanni seinen in San Luca verbliebenen Bruder Francesco an, 400.000 Euro in bar zu vergraben. Weitere Gespräche zeigen, dass die Brüder ein Vermögen in vergrabenen Fässern versteckten, während sie immer mindestens 500.000 Euro für regelmäßige Ausgaben bereit hielten.

Vermögen im Gesamtwert von etwa sechs Millionen Euro konnten die Behörden bei den Anti-Mafia-Razzien Anfang Mai in Deutschland und ...
Vermögen im Gesamtwert von etwa sechs Millionen Euro konnten die Behörden bei den Anti-Mafia-Razzien Anfang Mai in Deutschland und Italien beschlagnahmen. | Bild: DIA - Direzione Investigativa Antimafia

Giovanni warnte sogar seinen Bruder, die Bargeldbündel lieber in mehrere Löcher aufzuteilen, anstatt sie alle in ein und demselben Loch zu vergraben: „Es ist besser, zwei bis drei Stunden beim Graben zu verlieren, als ein ganzes Leben zu verlieren“, sagte er.

Anwälte schweigen

Sebastiano „Bacetto“ G. und seine Komplizen werden sich wohl unter anderem wegen bandenmäßigem Drogenhandel vor italienischen und deutschen Gerichten verantworten müssen. Die berichteten Vorwürfe, die von Polizeiquellen und offiziellen Anklageschriften skizziert wurden, sind jedoch noch nicht vor Gericht bewiesen worden. Für alle Genannten gilt daher die Unschuldsvermutung.

Mehrere Versuche der beiden investigativen Recherchenetzwerke OCCRP und IrpiMedia, ein Anwaltsteam zu kontaktieren, von dem bekannt ist, dass es Familie G. vertreten hat, sind unbeantwortet geblieben.