Herr Lucha, können Sie sich noch erinnern, wann Sie zum ersten Mal das Wort Corona gehört haben?

Ja, das war im zu Ende gehenden Jahr 2019.

Am Anfang sprachen Sie noch von Einzelfällen. Da haben Sie sich getäuscht.

Nein, da waren es tatsächlich Einzelfälle. Wir haben auch immer alles dafür getan, dass es im Prinzip für uns nachvollziehbare Einzelfälle bleiben. Bloß die Größenverhältnisse sind in einer globalisierten Welt natürlich deutlich größer.

Wann wurde Ihnen klar, was Corona für uns bedeutet?

Als wir gesehen haben, wie dramatisch die Lage in China ist, und der Virologe Christian Drosten uns darauf aufmerksam gemacht hat, dass dieses Coronavirus nicht von Pappe ist. Man lernt da immer dazu – ich habe im letzten halben Jahr so viel dazugelernt wie in den letzten 40 nicht. Eine Lektion, die ich gelernt habe, ist, dass es immer eine Gratwanderung zwischen Dramatisierung und Bagatellisierung ist. Gleich am Anfang haben wir die Botschaft „Seid vorsichtig“ ausgegeben. An die Regeln gehalten haben sich die Leute erst, als wir‘s verordnet haben. Im Zweifel bin ich deshalb dafür, das Teufelchen eher einmal zuviel an die Wand zu malen als zu wenig.

Das heißt, für Ihren Geschmack wurde jetzt schon zu viel gelockert?

Wir wagen jetzt den Ritt auf der Rasierklinge. Wir werden alles dafür tun, um das, was wir jetzt an Lockerungen haben, beibehalten zu können. Wesentliche weitere Lockerungen würde ich aber derzeit nicht ins Schaufenster stellen, um auch keine Erwartungen zu wecken.

Wird es nochmal einen bundesweiten Lockdown geben, also Geschäfts- und Schulschließungen, Kontakt- und Ausgangssperren, wie im März?

Das wäre das Allerschlimmste. Sie müssen sehen: Allein Baden-Württemberg gibt zwölf Milliarden Euro für die Corona-Krise aus. Wir haben künftig nicht nur eine höhere Schuldenlast, wir werden auch niedrigere Steueraufkommen haben, gleichzeitig haben wir an jeder Ecke mehr Aufgaben. Einen Lockdown im großen Stil – mit Kurzarbeitergeld, mit Soforthilfen, Überbrückungshilfen – werden Sie ein zweites Mal nicht erleben. Wo soll das Geld denn herkommen?

Manfred Lucha (links) im Gespräch mit SÜDKURIER-Redakteurin Angelika Wohlfrom und Pressesprecher Christof Schrade.
Manfred Lucha (links) im Gespräch mit SÜDKURIER-Redakteurin Angelika Wohlfrom und Pressesprecher Christof Schrade. | Bild: Tesche, Sabine

Gerade mehren sich die Covid-Fälle. Kürzlich gab es in Friedrichshafen einen Ausbruch, außerdem in Schwäbisch Gmünd und in Donzdorf…

Außerdem im Centerpark bei Leutkirch, wo wir zehntausend Schutzheilige gehabt haben. Dort gab es einen Ausbruch unter den Beschäftigten und die Behörden hatten an die 1000 Nachverfolgungen zu stemmen.

Wie ist Baden-Württemberg auf solche Ausbrüche vorbereitet?

Es wird künftig nur noch auf lokaler Ebene Lockdowns geben. Da gibt es ein klares Zweistufenkonzept: Was tun wir bei einer Inzidenz von 35 Neuinfektionen im Sieben-Tage-Schnitt auf 100 000 Einwohner? Was tun wir bei der 50er-Inzidenz? Wir verabreden gerade mit allen kommunalen Partnern, wer wofür zuständig ist. Zum Beispiel hat die Kassenärztliche Vereinigung jetzt in jedem Stadt- und Landkreis einen Pandemiebeauftragten. Und wir werden jetzt in jedem Kreis wieder ein Corona-Abstrich-Zentrum öffnen.

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So wie Bayern das bereits verkündet hat.

Wir sind zuerst dran.

Aber man hat das Gefühl, dass Baden-Württemberg immer Bayern – also Markus Söder – hinterherhechelt.

Ach, der Markus Söder! Wir sollten uns wirklich keinen Wettbewerb bei der Bewältigung der Pandemie liefern. Gerade sehen wir in Bayern, was ein zu schnelles Vorpreschen für Folgen haben kann. So schnell wie möglich und so gründlich wie nötig – das ist der baden-württembergische Weg. Damit sind wir bisher gut gefahren. Das sage ich ganz ohne Häme.

Darf sich denn jetzt jeder testen lassen?

Nein, wir haben ganz klare Vorgaben: Erzieherinnen und Erzieher, Mitarbeiter von Schulen und Betreuungseinrichtungen dürfen sich ab nächster Woche bis 30. September zweimal kostenlos testen lassen. Und es gibt eine Pflicht für Reiserückkehrer, sich testen zu lassen. Wir haben begonnen, diese mobilen Testzentren an Flughäfen, Bahnhöfen und Autobahnen zu etablieren – aber das ist nicht so einfach, man kann sich die Testnehmer nicht backen. Derzeit werden 78.000 Tests pro Woche gemacht, die Labore haben Kapazitäten bis wir können 150.000. Wir wollen aber, dass diese mit Sinn und Verstand genutzt werden.

Von Kroatien zurückgekehrt sind kürzlich Abiturienten aus dem Kreis Göppingen, die meisten infiziert…

Da muss man doch sagen: Wie verantwortungslos ist das denn? Die wissen doch noch aus dem Biologieunterricht, wie die Verbreitung eines Virus abläuft. Den Anspruch habe ich schon, dass die Menschen noch ein bisschen mitdenken.

Die hätten im Bus Maske tragen sollen. Aber ansonsten haben sie, streng genommen, doch nichts Verbotenes getan.

Das ist doch das Thema: Einerseits heißt es, wir würden zu viele Vorgaben machen. Macht man sie aber nicht und appelliert an die Vernunft, wird uns der Vorwurf gemacht: Wir machen zu wenig konkrete Verbote und würden zu wenig kontrollieren.

Also, sagen wir mal so: Was wieder erlaubt ist, muss doch auch in Ordnung sein, oder? Familienfeiern – man darf wieder im großen Stil einladen, dann macht man das auch wieder, wenn ein runder Geburtstag ansteht. Da sitzen dann 60, 70 Leute zusammen in einer Gaststätte.

Aber auch bei einer Familienfeier sind die Abstands- und Hygieneregeln nicht außer Kraft gesetzt! Das vergisst man oft. Ich sag Ihnen ganz ehrlich: Das Argument zählt nicht, weil jeder weiß, um was es geht. Ich kenne ganz viele Leute, die auch bei einer Familienfeier vorsichtig bleiben, die Maske tragen, die sich eben nicht umarmen. Solch ein Verhalten kann man doch verinnerlichen.

Wenn man sich die Ansteckungsfälle anschaut, fällt auf, dass alles im erlaubten Rahmen stattfand. Da drängt sich doch die Frage auf, ob das Land zu stark gelockert hat.

Das sehe ich komplett anders. Nach einem halben Jahr Pandemie in dieser Größenordnung, wo landauf, landab jeder weiß, worum es geht, muss es das ein Maß an Eigenverantwortung geben. Und das haben die meisten Menschen auch so verstanden. Ich sehe das ja, wenn ich in meinem schönen Ravensburg über den Wochenmarkt laufe: Da hat sich die Zahl der Maskenträger innerhalb der vergangenen Woche verdoppelt. Freiwillig, ohne dass einer was ansagen muss. Die meisten Leute wissen, dass das Virus nicht weg ist.

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Ist das jetzt schon die zweite Welle?

Das Virus ist da, und wenn wir nicht aufpassen, kommt es wieder zu einem unkontrollierten Anstieg der Infektionszahlen. Unsere Aufgabe ist, dass es eine sanfte Bewegung bleibt, wie wenn der Appenzeller Föhn ein bisschen auf den Bodensee bläst. Wir werden erhöhte Infektionszahlen bekommen. Das RKI prophezeit uns, dass das im Oktober der Fall sein wird – wenn sich wieder alle vermehrt drinnen aufhalten, wenn alle vom Urlaub zurück sind, alle zur Schule, in den Kindergarten und zur Arbeit gehen. Ich bin der Meinung, wir haben‘s selber in der Hand.

Wann werden wir einen Impfstoff haben?

Wir haben Chancen auf einen Impfstoff Mitte nächsten Jahres. Aber auch der wird, so ist der Eindruck im Moment, wohl keine zu lange Immunisierung ermöglichen. Eher vergleichbar mit den Influenza-Wirkstoffen. Wir sehen, wie schnell sich die Antikörper bei denen, die positiv waren, abbauen. Das spricht dafür, dass eine Immunität nicht so lange vorhält.

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Wie muss man sich das dann vorstellen? Das wäre dann eine ständige Pandemielage, die Jahre anhalten kann.

Ja, das wird eine längere Pandemielage sein. Es gibt aber auch Erkenntnisse, die Mut machen: Was wir jetzt gerade feststellen, ist, dass bei den aktuellen Infektionen nur wenige Fälle in der Intensivstation landen. Woran das liegt, wissen wir noch nicht. Bislang galt: fünf Prozent schwere Krankheitsverläufe, ein Prozent lebensbedrohliche.

Sehen Sie eine Chance für Fastnacht nächstes Jahr?

Die Frage musste ja kommen hier in Konstanz. Ich sehe, dass viele Treffen abgesagt werden. Das ist vernünftig, weil die nicht steuerbar sind. Die Fasnet, die wir alle kennen, mit rumjucken, anbusserln, Glühwein schlürfen – die seh‘ ich nicht. In einem vertretbaren Rahmen sind Sitzungen denkbar. Aber das, was die Fastnacht ausmacht, das ist verzückend, feucht und fröhlich – und das funktioniert nicht. Wie wollen Sie einen Hemdglocker veranstalten mit Personenerfassung?

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Nordrhein-Westfalen hat jetzt Maskenpflicht im Unterricht eingeführt. Muss das sein?

Da ist es mal ein Vorteil, wenn ein Land bei den Ferien als letztes dran ist. Wir schauen uns genau an, wie sich das in anderen Bundesländern entwickelt. Wir sind im Moment auf dem Stand, dass wir auf die Maske im Unterricht verzichten. Aber am Ende, sage ich mal, ist ein Unterricht mit Maske besser als keiner.

Mal jenseits der Vorschriften: Was würden Sie uns empfehlen – wie soll man sich verhalten? Wieviel Vorsicht ist vernünftig?

Abstand halten, kein Händeschütteln, Hände waschen, nicht aus fremden Gläsern trinken, busserln nur unter Partnern. Im Winter wird Lüften wichtig. Ich empfehle jedem, sich so zu verhalten, als wäre er selbst infiziert. Und weniger ins Gesicht fassen! Man sieht, dass es wirkt: Wir haben derzeit kaum andere Infektionen: wenig Sommergrippe, kaum Norovirus.

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Das sind stressige Zeiten für einen Gesundheitsminister. Was hat Ihnen am meisten zugesetzt?

Was mir wirklich viele graue Haare gebracht hat, war, dass wir nicht genügend Schutzausrüstung hatten. Da war ich stellenweise schon verzweifelt: Da rufen 30 Landräte gleichzeitig an, weil es keine Masken gibt. Der Bund hat auch wochenlang nicht liefern können, da haben wir unsere eigenen Wege gesucht. Ich denke, der Durchbruch war unser Vertrag mit Porsche. Das sind weltweite Logistiker – die haben für uns zusammen mit DB Schenker das Beschaffungsnetzwerk in China aufgebaut.

Was für mich wichtig war: Ich war kurz zuvor zuvor mit der Haiti Kinderhilfe dort vor Ort, zehn Jahre nach dem Erdbeben. Das hat mich durch die ganze Krise getragen, weil ich wusste, in der schlimmsten Krise geht‘s uns noch tausend Mal besser als den Menschen dort in der besten Situation.