Dass er jungen Leuten mal etwas von Goethes Faust und Schillers Räubern erzählt hat, ist inzwischen 14 Jahre her. Heute tritt Hans-Ulrich Rülke nur noch als Politiker vor Schüler.

Leere Stühle in den Klassenzimmern des Landes

Der Fraktionschef der Landes-FDP weiß, dass sich seit seiner Zeit als Lehrer viel verändert hat. Und dass es heute an vielen Schulen Baden-Württembergs gärt. Nur: Geld alleine helfe nicht, um das, was schief läuft im Südwesten, zu beheben, sagt er beim SÜDKURIER-Redaktionsgespräch kurz vor Ferienbeginn.

Das Problem zeigt sich täglich. Wer heute in die Klassenzimmer des Landes blickt, sieht leere Stühle, auch außerhalb der Ferienzeit. Dem Deutschen Lehrerverband zufolge ist das Bildungswesen mit dem „größten Lehrkräftemangel seit 50 Jahren“ konfrontiert. Die Kultusministerien der Länder melden mehr als 12.000 unbesetzte Lehrerstellen.

Dass sich die Lage an den Schulen so verschärft hat, liegt auch an der hohen Zuwanderung der vergangenen Jahre. Auch deshalb gab es 2022 so viele Erstklässler wie seit siebzehn Jahren nicht. Doch die Demografie beschert den Schulen nicht nur mehr Kinder, sondern auch weniger Erwachsene, die sie unterrichten könnten.

Stühle stehen auf Tischen in einer Realschule in Heitersheim. Wegen der Personalnot bleiben die Klassenzimmer des Landes auch außerhalb ...
Stühle stehen auf Tischen in einer Realschule in Heitersheim. Wegen der Personalnot bleiben die Klassenzimmer des Landes auch außerhalb der Ferienzeit leer. | Bild: Philipp von Ditfurth

Die Situation ist dramatisch, echte Lösungen sind kaum erkennbar. Nach Ansicht von Hans-Ulrich Rülke, 61, Pädagoge aus Pforzheim, geboren in Tuttlingen, sind die Gründe hausgemacht.

Da seien zum einen die Signale, die die Regierung über Jahre gesendet habe. 2012, moniert Rülke, habe der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann angekündigt, bei den Lehrkräften sparen zu wollen. „Dass das keine hohe Motivation für junge Leute ist, den Lehrerberuf zu studieren, ist klar.“

Zum anderen das befristete Angestelltenverhältnis: Bis zuletzt hatten Tausende Lehrkräfte des Landes über den Sommer kein Geld bekommen, weil das Schuljahr endete. „Dann bist du sechs Wochen arbeitslos und wenn du Glück hast, stellt man dich wieder ein.“ Attraktiv gemacht habe das den Lehrberuf natürlich nicht.

Kritik an Stellenabbau, Befristungen und Vergütung

Die Ferienarbeitslosigkeit für befristete Lehrkräfte gibt es in diesem Jahr zwar erstmals nicht mehr – 2800 zusätzliche Lehrkräfte sollen in diesem Sommer davon profitieren. Trotzdem, sagt Rülke, „das ist wie ein Tanker: Wenn die Titanic den Eisberg sieht, ist es schon zu spät.“

Kritik übt Rülke auch an der Vergütung. Andere Bundesländer, etwa Bayern, bezahlen Lehrer im Grundschulbereich und in den Real- beziehungsweise Werkrealschulen inzwischen nach der Besoldungsgruppe A13. Das Einstiegsgehalt beträgt hier rund 4300 Euro.

In Baden-Württemberg heiße es, das sei zu teuer, sagt der Liberale. Demgegenüber steht eine Wirtschaft, die deutlich besser zahle. Heißt konkret: „Wir haben eine Konkurrenzsituation im beruflichen Bildungswesen.“

Der FDP-Mann macht kein Geheimnis darum, was er von der aktuellen Bildungspolitik des Landes hält: nicht viel. Rülke sagt: „Die bildungspolitischen Weichenstellungen der Ära Kretschmann sind grundfalsch.“

„Die bildungspolitischen Weichenstellungen der Ära Kretschmann sind grundfalsch“: Hans-Ulrich Rülke beim ...
„Die bildungspolitischen Weichenstellungen der Ära Kretschmann sind grundfalsch“: Hans-Ulrich Rülke beim SÜDKURIER-Redaktionsgespräch in Konstanz. | Bild: Hanser, Oliver

Was aber muss sich nun ändern, um den Lehrermangel zu beheben? Um die Lücken in diesem Geflecht zu stopfen? Welche Maßnahmen helfen? Jedenfalls nicht nur mehr Geld, glaubt Rülke. „Es geht auch um pädagogische Konzepte.“

Die müssten früher ansetzen, nicht erst bei Zehnjährigen. Denn dort haben sich die Probleme dem Politiker nach schon verfestigt. „Frühkindliche Bildung und Sozialpolitik, da müssen Schwerpunkte liegen.“

Für Rülke darf das Ziel keine Einheitsschule sein. „Wenn das Kind am Bett nicht vorgelesen bekommt, sich die Eltern nicht kümmern, es dann vier Jahre in der Grundschule mehr schlecht als recht durchkommt, dann werden wir Bildungsbiografie nicht dadurch retten, dass das Kind ab der fünften Klasse auf die Gemeinschaftsschule geht.“

Stattdessen müsse man wieder zu einer verbindlichen Grundschulempfehlung kommen. Für diese setzt sich die FDP seit Jahren ein.

Rülke fordert Rückkehr zum G9

Dass sie jemals abgeschafft worden war, sei ein Fehler, der laut Rülke nun korrigiert werden muss. Ein Manko wie auch das achtjährige Gymnasium, das die FDP zunächst unterstützt hatte: Es ist in Baden-Württemberg derzeit Standard, während das sogenannte G9, das neunjährige Gymnasium, nur noch als Modellprojekt an einigen Schulen vorherrscht.

„Die erhofften Erwartungen an G8 haben sich nicht eingestellt. Man muss den Tatsachen ins Auge blicken und zurück zum neunjährigen Gymnasium. Die überwältigende Mehrheit der Eltern sieht das auch so.“

Tatsächlich hatte eine Elterninitiative erst im November mit der Sammlung von Unterschriften für einen Volksantrag begonnen, um das G9 flächendeckend zurückzuholen. Vergangene Woche startete die Landesregierung dann ein Bürgerforum zum Thema. Eine Aufschiebe-Strategie, glaubt Rülke. „Die Regierung spielt auf Zeit.“

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Neben Strukturellem sieht der frühere Pädagoge auch inhaltlichen Gestaltungsbedarf an den Schulen und ihrem System. Es bleibe wichtig, „einen nicht zu verändernden Kanon“ aufrechtzuerhalten. Wissen und Fähigkeiten also, die Kindern immer vermittelt werden müssten.

Dazu gehört seiner Ansicht nach das deutsche Drama. Oder auch die Fähigkeit, halbwegs fehlerfrei die deutsche Sprache in Wort und Schrift zu beherrschen. Gleichzeitig, sagt Rülke, müssen Lehrpläne ständig fortentwickelt werden, weil bestimmte Dinge dem Wandel unterliegen.

„Vielleicht sollte ein junger Mensch, der die Schule verlässt, etwas über Bankwesen wissen. Was ist eine Aktie? Wie eröffne ich ein Bankkonto?“ Wichtiger vielleicht als einiges aus der mittelalterlichen Geschichte.