Frau Wolf, Sie beschäftigen sich täglich mit Verschwörungstheorien. Sind Sie überrascht, dass in der Corona-Krise so viele Menschen an alternative Wahrheiten glauben?

Nicht wirklich. Verschwörungstheorien werden schließlich durch Ängste geschürt. Etwa Angst Privilegien zu verlieren. Angst vor der eigenen Zukunft. Und auch Angst vor dem Verlust der Freiheit. Gerade wenn die Welt unüberschaubar wirkt und man nicht mehr jeden Prozess durchblicken kann, werden Erklärungen gesucht.

Deborah Wolf.
Deborah Wolf. | Bild: Klaus Polkowski

Sie meinen einfache Erklärungen auf komplexe Fragen?

Ja.

Auch vor fünf Jahren, als die Flüchtlingskrise einsetzte, gab es viele Weltverschwörer. Gibt es einen Zusammenhang?

Verschwörungstheorien sind identitätswirksam. Der Community-Gedanke spielt eine wichtige Rolle. Man sucht nach Antworten. Und man sucht nach Mitstreitern. Viele hatten Angst, dass Deutschland überfremdet. Wo wir wieder beim Thema Angst wären. Mir bereitet die aktuelle Situation Sorgen.

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Wie würden Sie diese Menschen noch charakterisieren?

Früher ging die Wissenschaft eher davon aus, dass Verschwörungstheoretiker Einzelkämpfer sind, die gegen die Gesellschaft wettern. Durch das Internet hat sich das aber sehr stark geändert. Online bekommt man schnell Bestätigung, dass irgendetwas nicht mit rechten Dingen zugeht.

Wenn man an die Demonstration in Berlin denkt, könnte man meinen, dass Verschwörungstheorien zur Mode geworden sind. Teilen Sie den Eindruck?

Ich würde es nicht so radikal formulieren. Aber wenn viele an Verschwörungstheorien glauben, denken wiederum viele, dass irgendwas dran sein muss. Auf der anderen Seite spielt es ihnen in die Karten, wenn Verschwörungstheorien wenig Beachtung in der Öffentlichkeit finden. Dann wird nämlich behauptet: Medien schweigen ein Thema tot.

Ein Dilemma. Und nun?

Man muss Lösungen finden – zum Beispiel auch technisch. Auf YouTube und Facebook ordnet ein Algorithmus, wie wichtig bestimmte Inhalte sind. Die Wichtigen stehen oben, sind präsenter. Viele Klicks und kontroverse Inhalte profitieren. Verschwörungstheorien verbreiten sich schnell. Und man kommentiert als Befürworter sowie Gegner.

Wie kann man dieses Problem lösen?

Schwierig. Der Algorithmus ist so komplex, dass wir ihn gar nicht mehr wirklich verstehen. YouTube hat deshalb schon eine eigene Strategie entwickelt. Das Unternehmen löscht Videos mit Verschwörungstheorien manuell. Das ist ein hoher Aufwand.

Wer ist eigentlich für diese kruden Theorien verantwortlich? Wer setzt sie in die Welt?

Es gibt nicht einen Mastermind, der hinter allem steckt. Das wäre auch wieder eine Verschwörungstheorie. Die Wissenschaft hat gezeigt, dass sich viele Verschwörungstheorien an bereits bestehenden orientieren. Sie werden dann an die jeweils aktuelle Situation angepasst. Oft gibt es einen antisemitischen Ansatz. Grundmuster ist es, einen Sündenbock für die Lage zu finden. In Corona-Zeiten ist Bill Gates der Sündenbock. Er gibt der Verschwörungstheorie ein Gesicht, genau wie beim Virologen Christian Drosten. Er ist bekannt geworden. Und nun ein Mann, an dem man die Wut rauslassen kann.

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In meinem Umfeld gibt es Menschen, die schon auf Verschwörungstheorien reingefallen sind. Wie soll ich darauf reagieren?

Bei Menschen, die schon weit abgedriftet sind, bringt die inhaltliche Diskussion oft nichts. Viele wollen nur provozieren. Sie blocken ab, reagieren gar nicht auf Gegenargumente und weichen dann zum nächsten Thema ab.

Dann habe ich also keine Chance?

In solchen Fällen hat man das Recht darauf, klare Grenzen zu ziehen und ein Gespräch zu beenden.

Was tun, wenn jemand noch gesprächsbereit ist?

Dann sollte man in die Diskussion gehen und versuchen mit rationalen Argumenten und Fakten zu überzeugen. Ich glaube, dass es aber eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist.

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Wen sehen Sie in der Pflicht? Die Politik? Die Medien? Die Zivilgesellschaft?

Für mich ist es vor allem eine Bildungsfrage. Junge Menschen müssen von klein auf eine Medienkompetenz entwickeln. Denn Verschwörungsvideos können auf den ersten Blick sehr überzeugend sein. Man muss wissen, wie man mit diesen Inhalten umgehen soll. Stichwort: Quellenarbeit.

Bedeutet: Menschen mit höherem Bildungsabschluss sind nicht so empfänglich für Verschwörungstheorien.

Man könnte auf diesen Gedanken kommen. Aber so einfach ist es eben auch nicht. Die Wissenschaft ist sich hier nicht einig. Soziologen sind in unterschiedlichen Studien zu unterschiedlichen Ergebnissen gekommen.

Spielt das Alter eine Rolle?

Mein persönlicher Eindruck in Corona-Zeiten: Menschen über 40 sind im Moment eher empfänglich für Verschwörungstheorien als Jüngere. Aber Altersstrukturen wurden bisher kaum untersucht.

Was raten Sie Menschen, die gerade nach alternativen Wahrheiten suchen?

So schwer es auch ist: Es gibt Unsicherheiten im Leben. Man muss auch lernen, diese Situation auszuhalten. Die einfachste Antwort ist häufig nicht die richtige. Das Coronavirus ist hier ein super Beispiel. Auch ich habe es nicht geschafft, alles zu überblicken. Jeden Tag kamen neue Nachrichten und Studien, die sich manchmal widersprachen. Das ist natürlich verwirrend und völlig normal.