Zwei 13-jährige Mädchen erstechen die zwölf Jahre alte Luise in Freudenberg (Nordrhein-Westfalen). Eine Gruppe von Mädchen schlägt und demütigt in Heide (Schlewsig-Holstein) eine 13-Jährige. In Rastatt (Baden-Württemberg) schlagen zwei Mädchen eine 14-Jährige an einem Bahnhof zusammen. Werden Mädchen immer gewaltbereiter? Erklärungsversuche seien nur schwer möglich, sagt Jérôme Endrass. Er ist Professor an der Universität Konstanz und leitet dort die forensische Psychologie mit.

Deutlich zu erkennen ist aber, dass die Gewalttaten unter Minderjährigen insgesamt zunehmen. Das bestätigen auch Zahlen des Polizeipräsidiums Ravensburg.

Bei vorsätzlicher Körperverletzung erreichte die Zahl der Fälle 2022 Jahr einen Höchststand: 76 Taten verzeichnete das Polizeipräsidium – 64 davon von Jungen begangen, zwölf Mal waren es weibliche Täterinnen. Zum Vergleich: 2021 gab es 32 Fälle vorsätzlicher Körperverletzung, bei denen Mädchen vier Mal die Täterinnen waren.

Unterschiede werden mit dem Alter deutlicher

Dass die Zahl der Gewalttaten, die von Mädchen ausgehen, und die, die von Jungen ausgehen, auseinander klafft, bestätigt auch Endrass. Zwar seien auch schon bei Minderjährigen Jungen überrepräsentiert, was Handgreiflichkeiten angeht, wie die Zahlen zeigen. „Aber die Unterschiede sind nicht so deutlich wie im Erwachsenenalter.“ Das zeige sich beispielsweise in Partnerschaften: Zwar können auch Frauen austeilen, so Endrass, das geschehe aber meistens verbal, wohingegen Männer eher handgreiflich werden.

Allgemein lasse sich sagen: „Je schwerer die Gewalt, desto eher sind die Täter männlich.“ Dass derzeit der Eindruck entstehe, schwere Gewalt unter Mädchen nehme stark zu, sei den zuletzt bekannt gewordenen Taten geschuldet, sagt der Professor. So seien bei schweren Amokläufen an Schulen die Täter überwiegend männlich. Was man dagegen sehe, sei, dass es einen Spitzenwert in der Gewaltbereitschaft gebe, wenn man das Alter betrachtet. Laut Endrass setzt mit etwa 14 Jahren ein Schub ein, der rund zehn Jahre dauert und mit etwa 25 Jahren wieder abklingt. „Das hat was mit der Gehirnreife zu tun“, sagt er.

Jérôme Endrass ist Co-Leiter der Arbeitsgruppe Forensische Psychologie an der Universität Konstanz.
Jérôme Endrass ist Co-Leiter der Arbeitsgruppe Forensische Psychologie an der Universität Konstanz. | Bild: Jérôme Endrass

Endrass vertritt die Hypothese, dass je stärker die Geschlechterdiskrepanz zwischen Mann und Frau in der Gesellschaft ist, desto ist größer die Täter-Opfer-Diskrepanz zugunsten der Frau als Opfer. „Das Selbstbewusstsein, die Rolle der Frau in den Medien und die Emanzipation könnten zu einer Angleichung von Gewalttaten beider Geschlechter führen“, sagt er. So spielten in Filmen und Serien auch Frauen die Rolle der Mörderin, Täter seien nicht länger nur männlich.

Fakt ist: Lange wurde Gewalt von Frauen nicht ernst genommen. Bis in die 90er-Jahre hinein ging die Forschung davon aus, dass Intimpartnergewalt vorwiegend ein männliches Phänomen sei. Heute sieht man das differenzierter, wobei es nach wie vor eine Diskrepanz zwischen den Geschlechtern gibt: Männer, die in Beziehungen Gewalt erleben, bringen diese nur selten zur Anzeige und akzeptieren in Beziehungen auch mehr Gewalt als Frauen, so Endrass. Ziehe eine Frau bei Gewalt in der Beziehung die Reißleine, sei das für Männer in einer ähnlichen Situation oft noch kein Grund, die Beziehung zu beenden. Das Rollenbild des Mannes spiele dabei nach wie vor eine wichtige Rolle.

Wer muss bei auffälligem Verhalten wie reagieren?

Die Gesellschaft sei heute sensibilisierter, weibliche Taten würden tendenziell mehr dokumentiert als früher. „Aber die Zeiträume sind zu kurz für eine effektive Evaluation. Da reichen 20 bis 25 Jahre nicht aus“, so Endrass. „Uns sind keine genauen Zahlen dazu bekannt, ob Mädchen häufiger Gewalttaten begehen. Aufgrund der Zu- oder Abnahme über wenige Jahre hinweg kann man keine seriösen Aussagen machen.“

Doch wie können Gewalttaten ganz allgemein verhindert werden? Endrass rät zu mehr Sensibilisierung bei Pädagogen – wie müssen sie bei auffälligem Verhalten reagieren? Dafür brauche es mehr Aufmerksamkeit für das Thema, die passende Ausbildung und den Zugang zu Experten, die unterstützen können. Lehrer allein könnten das nicht schaffen, so der Experte, aber sie können Verdachtsfälle an Schulsozialarbeiter weiterleiten und diese wiederum an Kinder- und Jugendpsychologen.

Eltern, die auffälliges Verhalten bei ihren Kindern feststellen, rät er: „Gewaltberatungsstellen und Kinder- und Jugendpsychologen sind eine gute Anlaufstelle.“ Viele Kinder würden die Abklärung auch als Entlastung erleben. Man müsse aber auch sagen: „Bei sehr vielen Kindern mit Gewaltfantasien passiert gar nichts.“

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Ob es nun sinnvoll wäre, Straftatbestände und Strafmündigkeit neu zu definieren, da ist sich der Experte unsicher, sagt aber: „Das ist selten ein Gamechanger.“ Vielmehr sei es eine politische und gesellschaftliche Diskussion. Diese sei berechtigt, aber an den Taten ändere es wahrscheinlich wenig, so Endrass: „Es gibt wenige Hinweise darauf, dass eine Gesetzesänderung große Effekte hat.“ Täter würden im Vorfeld eines Vergehens nicht über die Konsequenzen nachdenken. Denn dann würden viele Taten erst gar nicht begangen werden. Es seien vielmehr zwei Baustellen: „Wie geht die Gesellschaft mit den Taten um? Und wie kann man die Taten verhindern?“