Dunkle Wolken ziehen über Trossingen auf der Baar. In einem Mehrfamilienhaus im Norden des Stadtzentrums, an dessen Flurwände die Spurensicherung zahlreiche Blutspritzer markiert hat, befragen fünf Kripobeamte gerade die Bewohner. Ein Kind, das bitterlich weint und schreit, ist bis nach draußen auf die Straße zu hören.

Es ist eine gute Wohngegend in der 15.000-Einwohner-Stadt im Landkreis Tuttlingen mit vielen schmucken Neubauten. Nur jenes Mehrparteienhaus, in dem am Dienstag der 33-jährige Bewohner drei Nachbarn zum Teil lebensgefährlich mit einem Messer verletzt haben soll, wirkt aus der Zeit gefallen. Mit seinen kleinen, aber günstigen Einzimmerwohnungen erinnert das langgestreckte Haus ein wenig an eine Kaserne, die vor allem Zuwanderer, Rentner und Familien beherbergt.
„Auf den Boden – Polizei!“
Einer dieser Bewohner ist Markus D., der schon lange ausziehen will, aber nichts Leistbares findet. Er kam am Dienstag gegen 17 Uhr von der Arbeit nach Hause, als die blutige Auseinandersetzung noch in dem Wohnhaus tobte. „Ich habe ein Riesengeschrei gehört im Haus und mir gedacht, da gehst du lieber nicht rein. Kurz darauf kam schon der schwerverletzte Vater raus und hat sich eine stark blutende Schnittwunde an der Seite gehalten. Etwa 20 Sekunden später folgte sein Sohn und hielt sich ebenso die Seite“, schildert D. dem SÜDKURIER.

Ein weiterer, ebenfalls verletzter Sohn kümmerte sich als Ersthelfer um seinen schwer verletzten Vater und Bruder, bis die Rettungskräfte, darunter auch ein Hubschrauber, eintrafen. Ein Sondereinsatzkommando nahm den mutmaßlichen Angreifer mit dem Befehl „Auf den Boden, Polizei!“ fest, wie Nachbarn dem SÜDKURIER schildern. Nach seiner Festnahme wurde er dem Haftrichter vorgeführt, wie die Polizei mitteilte.
„Treppenhaus voller Blut“
Der mögliche Auslöser der Auseinandersetzung dürfte banal gewesen sein. „Ich hatte den Mann zufällig im Treppenhaus getroffen und eine Pizzakarte in der Hand. Plötzlich hat er ‚Guten Appetit‘ gesagt und auf meine Karte gespuckt. Er ist dann mit einem Messer auf uns losgegangen, das ganze Treppenhaus war voller Blut“, sagt der 19-Jährige leichtverletzte Sohn. Oberhalb seiner linken Wange überdeckt ein großes Pflaster eine Schnittwunde und um seinen linken Arm trägt er einen weißen Verband.
Sein 59-jähriger Vater sei mit einem zwölf Zentimeter tiefen Bauchstich lebensgefährlich verletzt worden und lag am Mittwoch noch auf der Intensivstation. Er musste laut Polizei und Staatsanwaltschaft notoperiert werden, soll aber außer Lebensgefahr sein. Sein 23-jähriger Sohn erlitt ebenfalls eine schwere Verletzung im Bauchbereich. „Zum jetzigen Zeitpunkt steht noch nicht fest, wodurch diese verursacht wurde“, sagt Sama Martina von der zuständigen Staatsanwaltschaft Rottweil.

Auch der mutmaßliche Angreifer ist bei der Auseinandersetzung verletzt worden, allerdings nur leicht. „Eine gegen ihn gerichtete Messerattacke ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht bekannt“, teilt Staatsanwältin Martina auf SÜDKURIER-Anfrage mit.
Warnung bereits vor Einzug
Doch was führte zu dem blutigen Gewaltausbruch in der beschaulichen Wohngegend, der auch Menschen das Leben hätte kosten könnten? Der 19-jährige Sohn des lebensgefährlich Verletzten sagt, der 33-jährige Tatverdächtige sei ein Mensch, „den alle meiden, der schon lange provoziert und sich mit allen anlegt“. Nachbar Markus D. bestätigt diese Einschätzung. „Schon bevor ich hier eingezogen bin, hat man mich vor ihm gewarnt. Abstand halten und vorsichtig sein.“
So habe es gegen den mutmaßlichen Angreifer schon zahlreiche Anzeigen wegen Körperverletzung und Ruhestörung gegeben. „Einmal hat er einen vom Stuhl gestoßen, der dann eine Platzwunde am Kopf hatte. Auch ich bin schon zweimal von ihm leicht verletzt wurden – vor zwei Jahren und im August. Alle Anzeigen wurden eingestellt“, sagt Markus D. Dem SÜDKURIER liegt ein Schreiben der Staatsanwaltschaft vor, das bestätigt, dass eine Anzeige gegen den mutmaßlichen Täter vorlag, aber eingestellt wurde.
Schlagbohrer mitten in der Nacht
Unerträglich für die Bewohner dürften auch die mutmaßlichen Ruhestörungen mitten in der Nacht gewesen sein, die über Monate gegangen sein sollen. „Zu Schlafzeiten hämmerte er mit irgendeinem Gegenstand gegen die Heizkörper. Das überträgt sich im ganzen Haus“, sagt ein Bewohner.

Dieser notierte die Ruhestörungen feinsäuberlich für die Polizei. Demnach soll der mutmaßliche Gewalttäter zwischen 30. Dezember 2020 und 15. Januar 2021 etwa 20 Mal zu nachschlafender Zeit einen Schlagbohrhammer gegen die Wand oder die Decke gerichtet haben. „Wenn nachts um 3 Uhr gebohrt wird, ist alles wach, mitten im Tiefschlaf“, sagt ein Nachbar. Auch diese Anzeigen sollen eingestellt worden sein. Auf SÜDKURIER-Nachfrage will die Staatsanwaltschaft Rottweil das weder dementieren noch bestätigen, erklärt nur: „Der Beschuldigte ist nicht vorbestraft.“
Ausraster wegen Zwangsräumung?
Aufgrund der geschilderten Probleme habe der eher schwierige Mieter eine Räumungsklage vom Eigentümer erhalten. Er hätte am Donnerstag, 30. September, also nur zwei Tage nach der Messerattacke, aus seiner nun polizeilich versiegelten Einzimmerwohnung ausziehen müssen. War das das Motiv oder ein Mitgrund für den Gewaltausbruch?
Die Nachbarn bestätigen das, einer sagt: „Der Mann dürfte wegen der bevorstehenden Zwangsräumung seiner Wohnung so leicht ausgerastet sein. Er hatte nichts anderes, wusste nicht wohin.“ Die Staatsanwaltschaft widerspricht dem jedoch: „Eine etwaige Räumung steht nach hiesiger Erkenntnis zum jetzigen Zeitpunkt in keinem Zusammenhang mit der Tat“, sagt Staatsanwältin Martina.

Besonders sauer stößt vielen Bewohnern auf, dass trotz der vielen Anzeigen wegen Körperverletzung und Ruhestörung noch nichts gegen den Mann unternommen worden sei. „Unser Rechtssystem wartet darauf, bis etwas Schlimmes passiert. Keiner macht was und keiner kümmert sich darum, dass diesem Menschen geholfen wird“, sagt einer der Nachbarn.
Auf die Frage des SÜDKURIER, ob die Gefahr, die durch den 33-jährigen Tatverdächtigen ausging, nicht ernst genug genommen oder unterschätzt wurde, antwortete die Staatsanwaltschaft Rottweil nicht. Für den Mann gilt die Unschuldsvermutung.