Was da am Wochenende auf dem Konstanzer Festgelände Klein Venedig stattfand, glich äußerlich eher einem esoterisch angehauchten Festival mit Seifenblasen, mit Essens- und Getränkeständen und einem T-Shirt-Verkauf. Doch die Botschaften auf den Plakaten, die einige der Demonstranten mitbrachten, vor allem aber die Redner auf der Bühne, sprachen eine andere Sprache.

Auf einem Plakat ist die Rede von „Verfassungs(ver)brechern“, genannt sind unter anderem Bundeskanzlerin Angela Merkel, Gesundheitsminister Jens Spahn, Innenminister Horst Seehofer und der Virologe Christian Drosten. Ein anderer hält ein Plakat hoch, auf dem er fordert: „Keine Enteignung der Gesundheit, keine Fremdbestimmung“. „Für unsere Freiheit, gegen Merkels DDR 2.0“ heißt es auf einem anderen Schild. Wieder ein anderer hält die Maskenpflicht für Kindesmisshandlung. Die Menschen hier fühlen sich ihrer Freiheit beraubt, so viel ist klar.
Systemkritik statt Demo gegen Corona-Maßnahmen
Die Stimmung ist friedlich, und dennoch wirkt das, was da auf der Bühne propagiert wird, bedrohlich. Als ein Redner eine Schweigeminute für die Kinder fordert, die angeblich an der Maskenpflicht gestorben sind, erntet er unterstützende Rufe aus dem Publikum. Nach Belegen fragt niemand. Die Statistiken des RKI, die Studien zu Corona, werden hingegen in Zweifel gezogen. Die eigentlich wichtigen Studien würden ignoriert, heißt es stattdessen.
Die Liste des vermeintlichen Wissens an diesem Tag ist lang. Die „sogenannte Pandemie“ sei Blödsinn, es sterbe ja hier keiner. Und überhaupt, mehr als 80 Prozent der Bevölkerung seien schon immun, glaubt ein Redner zu wissen. Vitamin C, Selen und Vitamin D reichten vollkommen aus, um ein Virus wie Corona abzuwehren, behauptet ein anderer.
Corona-Thema ist nur ein Anlass
Mit Fortschreiten der Demonstration wird der Ton der Reden härter, hat immer weniger mit Corona selbst zu tun, immer mehr mit Systemkritik. Die Maskenpflicht dient offenbar nur als Aufhänger für eine Art Breitbandkritik gegen die Regierung, die Presse, eine „böse Macht“, die undefiniert bleibt, aber mit der alles gemeint sein kann, was die Zuhörer darunter verstehen wollen.
Immer wieder ist von „Lüge“ die Rede, wird systematisch von einer „angeblichen Pandemie“ gesprochen. Wenn einer der Moderatoren von der Bühne „Friede“ in die Menge ruft, schallt es voller Inbrunst „Freiheit“ zurück, als sei die Bundesrepublik eine Diktatur.

Politikberater Johannes Hillje überrascht das nicht. Hillje setzte sich in mehreren Büchern mit Propaganda und politischem Populismus auseinander.
Er sagt: Das Corona-Thema ist tatsächlich nur der Anlass für viele der Redner, radikale Ideologien und Narrative zu verbreiten.“ Das Feld reiche von Anti-Establishment bis Anti-System-Haltungen bis hin zur klassischen Elitenkritik, wie man sie vom Rechtspopulismus kenne. Hillje spricht von sogenannten „Scharnierideologien“. Was er meint: „Die Grenzen zwischen einem noch legitimen demokratischen Diskurs und extremistischen Ideologien werden verwischt.“
Keine klare Abgrenzung
Dazu gehört auch, dass prominente Querdenker wie der Rechtsanwalt Markus Haintz oder Gründer Michael Ballweg selbst immer wieder floskelhaft wiederholen, man grenze sich ab gegen Extremisten.
Doch Haintz bezeichnet in einem Interview die Reichsflagge als eine Form der Meinungsäußerung. „Damit macht man sich selbst unglaubwürdig“, sagt Hillje. Die Flagge ist zwar nicht verboten, aber ein bekanntes Ersatzsymbol in der rechtsextremen Szene. Konstanz hatte die Reichsflaggen vorab verboten, bei der Kundgebung waren keine zu sehen.
Der Verfassungsschutz sieht zwar keine Durchmischung von Rechten in der Querdenker-Szene. Auch werde die Gruppierung nicht vom Landesverfassungsschutz beobachtet, sagt Sprecher Julian Illi dem SÜDKURIER auf Anfrage. Aber: „Die Entwicklung wird fortlaufend analysiert.“ Und: Nach Beobachtungen der Behörde seien „einzelne Rechtsextremisten wie auch Anhänger des Milieus der ‚Reichsbürger‘ und ‚Selbstverwalter‘ in Konstanz vor Ort gewesen.
„Eine Vereinnahmung der Querdenken-Organisation und des Protestgeschehens durch extremistische Akteure stellt das LfV aktuell aber nicht fest“, betont der Sprecher.

Doch Ballweg, der inzwischen auch für das Amt des Stuttgarter Oberbürgermeisters kandidiert, positioniert sich klar als Gegner der Verfassung.
Radikale Ziele
Im August sagte er auf einer Kundgebung: „Wir sind die verfassungsgebende Versammlung, und ich rufe alle Menschen bundesweit, lade alle nach Berlin ein, an einer neuen Verfassung zu arbeiten.“
Nach der Definition des Bundesverfassungschutzes wäre Ballweg damit selbst im Bereich des Extremismus. Denn darin heißt es: „Verfassungsfeindlich (= extremistisch) sind politische Aktivitäten, die gegen die verfassungsmäßige Ordnung gerichtet sind und darauf abzielen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beseitigen.“
Hillje sagt: „Das zeigt, dass es bei der Bewegung im Kern gar nicht mehr um Corona und dem Protest allein gegen Coronamaßnahmen, der ja demokratisch legitim ist, geht.“ Er geht noch weiter: „Jeder Demonstrant müsste sich mittlerweile bewusst sein, dass es nur oberflächlich um Corona geht, maßgeblich aber radikale Ziele wie die Abschaffung der Verfassung verfolgt werden.“
Verschwörungstheorien finden ihren Platz
Als Verschwörungstheoretiker wollen sich die Querdenker nicht verstanden wissen. Und doch war in Konstanz bei der Demonstration oft die Rede von einer „bösen Macht“. Der Freiheitsentzug drohe, es wird zum Boykott der Rundfunkgebühren und Steuerzahlungen aufgerufen, Banken sollen nicht mehr mit Geld handeln dürfen.
Es wird suggeriert, dass die Bundesregierung Alleinherrscherin ist, das Volk müsse sich zur Wehr setzen. „Das ist eine klassische populistische Erzählweise“, analysiert Hillje solche Aussprachen: „Da wird konstatiertes Handeln von Medien und Politik unterstellt“. Die Verschwörungsmentalität sei stark verwurzelt in der Querdenker-Bewegung.

Selbst Theorien über ein gefährdetes Wahlrecht wurden bei der Demonstration in Konstanz laut: Ein Redner behauptete, die Wahl drohe abgesagt zu werden, die Bundeswehr im Inneren eingesetzt werden.
Die Theorien scheinen bei den Zuhörern anzukommen. Hillje erklärt das so: Zwar sei empirisch noch nicht aufgeschlüsselt, aus welchen Teilen der Gesellschaft die Querdenker kommen, „aber wenn man es vergleicht mit der populistischen Klientel, dann wissen wir, dass geringes Vertrauen in demokratische Institutionen und in den Rechtsstaat vorhanden ist.“
Ein Gefühl der Aufklärung
Mit den Theorien, die die Redner auch in Konstanz vertraten, werden Zweifel gesät und fallen offenbar auf fruchtbaren Boden. Aber warum? „Das hat eine Funktion der Selbstaufwertung, erklärt Hillje. „Das Selbstwertgefühl wird durch den Eindruck gesteigert, man wüsste schon etwas, was andere noch nicht wissen.“
Auch deshalb fielen häufig Vokabeln wie „erwachen“ – etwa in dem Song „Wach“ des Sängerduos André Maris und Janin Devi, die schon auf vielen Kundgebungen auftraten. Es entstehe ein Gefühl von Aufklärung, „es besser zu wissen als der Rest, der es irgendwann auch noch kapieren wird“.
Das Gefühl eines Wissensvorsprungs, Überlegenheit und Mut, einer Art „Avantgarde“ anzugehören, „die Speerspitze einer Wahrheitsbewegung“ zu sein, führe zu einer mächtigen Gruppenidentität. „Das ist etwas, was trotz aller Heterogenität und Unterschiede die Querdenker zusammenhält“.