Taras Kostenko und seine schwangere Frau Tanja haben es geschafft. Zusammen mit ihren beiden Söhnen Timofei und Tichon sind sie in Sicherheit, geflohen vor der Hölle des Krieges, der in ihrer ukrainischen Heimat tobt.

Taras hat einen russischen Pass, Tanja, Timofei und Tichon sind Ukrainer. Sie alle kommen aus Charkiw, der zweitgrößten Stadt in der Ukraine, die seit Wochen im Zentrum der russischen Angriffe steht. 1,5 Millionen Menschen lebten vor dem Krieg friedlich in der Stadt unweit der russischen Grenze.

Die Beziehungen auf beiden Seiten der Grenze sind eng. Man bekommt eine Ahnung, wie komplex die Verhältnisse im Osten der Ukraine sind, wie schwierig eine Lösung des Konflikts wird, wenn man Taras zuhört: „Mama und Papa leben in Russland, ich in der Ukraine“, sagt der 42-Jährige.

„Oder mein Nachbar: Seine Frau ist aus dem benachbarten Belgorod gleich hinter der Grenze und sie leben in Charkiw. Bei ihrer Schwester ist es umgekehrt: Sie lebt in Belgorod, stammt aber aus Charkiw. Das ist nur so meine Straße. Alles ist miteinander verwoben“, sagt Taras. Angesichts des Krieges und des Leids in seiner Heimat fügt er hinzu: „Die Wahrheit darüber werden wahrscheinlich unsere Enkel erfahren.“

Der 24. Februar war für die Kostenkos ein dramatischer Einschnitt

Bis vor kurzem arbeiteten mehr als neun Personen für den Leiter des Architekturbüros in den Filialen in Charkiw (Ukraine) und Belgorod (Russland). Auch für Taras nahm das Leben mit dem 24. Februar eine dramatische Wendung. Und dabei spielt Überlingen am Bodensee eine besondere Rolle.

Taras Kostenko an der Gedenkstätte in Überlingen-Brachenreuthe.
Taras Kostenko an der Gedenkstätte in Überlingen-Brachenreuthe. | Bild: Nils Köhler

Überlingen, Anfang April

Taras, der Mann mit den blauen Augen und dem freundlichen Lachen, spricht russisch. Was er sagt, übersetzt bei einem Gespräch mit dem SÜDKURIER Nadja Wintermeyer vom Freundeskreis „Brücke nach Ufa“. Der Verein hat seit der Flugzeugkatastrophe vom 1. Juli 2002 enge Kontakte zur Republik Baschkirien, die der russischen Föderation angehört. Von dort kamen die meisten der 71 Menschen, die bei der Katastrophe ums Leben kamen.

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Blick von der Gedenkstätte hinab auf die einstige Absturzstelle

„Als hier die Flugzeugtrümmer lagen und das Gras hoch stand, kamen die Busse dorthin“, erinnert sich der Mann aus Charkiw an diesem kalten Apriltag. Er zeigt auf einen kleinen Platz unterhalb der Gedenkstätte. Taras erinnert sich noch gut: Dort kamen Anfang Juli 2002 die Hinterbliebenen der Flugzeugkatastrophe erstmals an – die meisten von ihnen aus dem knapp 4000 Kilometer entfernten Baschkirien.

Unter ihnen waren auch Taras, seine Mutter und sein Vater aus dem westrussischen Grenzort Belgorod. Die Familie weinte, sie trauerte um die Tochter, Taras Schwester Oksana, 30, die in der Tupolew der Bashkirian-Airlines Flug 2937 als Begleitung mitgeflogen war.

Dieses Bild ging 2002 um die Welt: Angehörige der russischen Absturzopfer trauern mit Blumen und Kränzen am zerstörten Heck der Tupolew ...
Dieses Bild ging 2002 um die Welt: Angehörige der russischen Absturzopfer trauern mit Blumen und Kränzen am zerstörten Heck der Tupolew 154 . Darunter sind auch Taras Kostenko und seine Eltern. | Bild: Rolf Haid/dpa

Seine Schwester hatte in Charkiw Innenarchitektur studiert, erzählt er. Ihre Promotion in Kunstgeschichte stand kurz vor dem Abschluss, sie finanzierte ihr Studium als Reiseleiterin. Und eigentlich hätte Oksana gar nicht in dem Flugzeug sitzen sollen, das eine Reisegruppe aus Baschkirien mit 49 Kindern ins spanische Barcelona bringen sollte.

Oksana war eingesprungen für eine andere Frau, deren Kind plötzlich krank wurde. Weil die Reisegruppe ihren Flieger in Moskau knapp verpasst hatte, buchten sie kurzerhand auf einen Charterflug um. Das war jene Tupolew, die wenige Stunden nach dem Start in Moskau mit einer Frachtmaschine der DHL elf Kilometer über dem Bodensee zusammenstieß.

Oksana Kostenko (1972-2002) kurz vor ihrem Tod. Die junge Frau mit russischem Pass, die in Charkiw lebte, starb bei der ...
Oksana Kostenko (1972-2002) kurz vor ihrem Tod. Die junge Frau mit russischem Pass, die in Charkiw lebte, starb bei der Flugzeugkatastrophe von Überlingen am 1. Juli 2022. Nach diesem Foto fertigte ihr Bruder Taras das Grabmal auf dem Friedhof von Belgorod. | Bild: Taras Kostenko

„Das war wie eine Verbindung im Unterbewusstsein“

Das Unglück und der Tod seiner Schwester bewegen Taras bis heute. Sie sei sehr belesen gewesen und gebildet, erinnert er sich – ebenso genau wie an den Tag, an dem er von ihrem Tod erfuhr. Taras war damals 22.

„Mein Vater war unterwegs nach Hause. In dieser Nacht hätte er beinahe einen Autounfall gehabt. Mama und ich waren schon beim Einschlafen und ich hatte das Gefühl, als ob man mich aus dem Bett schmiss. Als wäre etwas runtergefallen. Ich bin aufgesprungen. Das war so ein unruhiges Gefühl. Ich wusste da noch nichts von dem Unglück. Das war wie eine Verbindung im Unterbewusstsein.“

Am Morgen sei er dann von Belgorod nach Charkiw gefahren. „Als ich dort ankam, haben Freunde mir gesagt, dass meine Schwester ums Leben gekommen ist.“ Sie hatten damals kein Geld, um nach Überlingen zu kommen. „Aber der Gouverneur der Region Belgorod unterstützte uns, damit wir an den Bodensee zur Absturzstelle kommen konnten.“

Taras Vater besucht das Grab seiner Tochter Oksana im russischen Belgorod an der ukrainischen Grenze. Sie starb bei dem Flugzeugunglück ...
Taras Vater besucht das Grab seiner Tochter Oksana im russischen Belgorod an der ukrainischen Grenze. Sie starb bei dem Flugzeugunglück von Überlingen. | Bild: Taras

Zunächst flogen sie nach Moskau – Taras und seine beiden Eltern. Dann in die 1300 Kilometer entfernte baschkirische Hauptstadt Ufa, wo die Hinterbliebenen zustiegen. Die Maschine brachte alle Angehörigen nach Friedrichshafen, von wo aus sie in Bussen nach Überlingen gelangten.

Das sei am zweiten oder dritten Tag nach dem Unglück gewesen, erinnert sich Taras. „Das Feld, auf dem noch die Trümmer lagen, war gelb.“ An dem gewaltigen Flugzeugrumpf legten sie Blumen ab. Das Bild der Verzweifelten ging damals um die Welt. „Papa hatte ein Lied komponiert und er hat es gesungen.“

Oksanas Körper habe wohl in der Apfelplantage gelegen. Das hätten sie von Helfern gehört. Viele Leichen waren nach dem Unglück weit verstreut gefunden worden – auf Feldern und in Bäumen. Um Oksana zu identifizieren, wurde bei den Eltern Erbgut entnommen. Die Gedanken an all das wühlen Taras auf.

Es fällt ihm schwer, darüber zu reden. „Die Zeit heilt nicht. Nur die Gefühle werden ein bisschen stumpfer. Wenn du anfängst darüber zu reden, dann wird es wieder wach“, sagt Taras. „Die Erinnerung kommt, egal wie viel Zeit vergangen ist.“

Auf dem Gedenkstein an der Absturzstelle bei Überlingen stehen die Namen aller Opfer auf deutsch und russisch. Darunter ist auch der ...
Auf dem Gedenkstein an der Absturzstelle bei Überlingen stehen die Namen aller Opfer auf deutsch und russisch. Darunter ist auch der Name von Oksana Kostenko, die damals 30 Jahre alt war. | Bild: Nils Köhler

Die Eltern leben nach wie vor in Belgorod. Dort ist auch das Grab ihrer Tochter, deren Leichnam überführt wurde. Taras zeigt ein Foto mit dem Grabmal. Es bildet seine Schwester in Lebensgröße ab, wie sie die Arme zum Fliegen ausbreitet. Taras hatte es selbst gefertigt nach einem Foto, das sie glücklich zeigt kurz vor ihrem Tod. „Meine Eltern sagen, Oksana hat uns hierhergeführt. Sie wollte immer in Deutschland leben. Deutschland gefiel ihr sehr, die Stimmung passte.“

Die Kostenkos fliehen von Charkiw an den Bodensee

Am 22. Februar 2022, zwei Tage vor dem Überfall auf die Ukraine, waren Taras und seine Familie in Belgorod bei seinen Eltern. Seine schwangere Frau habe das Gefühl gehabt, „irgendwas stimmt nicht“. „Dann sind wir nach Charkiw zum Frauenarzt gefahren und wollten eigentlich am 24. zurück nach Belgorod.“ Niemand habe in Charkiw geahnt, was der Stadt bevorsteht. „Aber wir hatten ein ungutes Gefühl, was sich da zusammenbraut.“

Als die ersten Granaten einschlugen, flüchteten sie in den Keller eines Freundes. 17 Menschen suchten neun Tage lang darin Schutz. Taras zeigt Fotos von Menschen, die auf dem Boden sitzen und auf Decken liegen, dazwischen Kinder. Ein anderes Foto zeigt seine Frau mit den beiden Kindern im Keller, eingehüllt in dicke Jacken. Der siebenjährige Sohn Timofei konnte aus Angst nichts mehr essen.

„Wir waren total am Anschlag“, sagt Taras über die beklemmende Situation. „Wir versuchten, die Kinder etwas abzulenken, um ihnen die Angst zu nehmen.“ Seine Frau Tanja ist Grafikdesignerin. „Sie erfand Märchen für die Kinder der Ukraine, um sie irgendwie von den schrecklichen Ereignissen abzulenken. Sie nahm sie als Audiodatei auf und schickte sie an alle Kinder, die sie kannte.“ Taras nennt sie liebevoll Tanjuschka, Sternchen.

Sie suchten Rettung vor Raketeneinschlägen im Keller: Tanja Kostenko mit den beiden Söhnen Tichon, 4, und Timofei, 7.
Sie suchten Rettung vor Raketeneinschlägen im Keller: Tanja Kostenko mit den beiden Söhnen Tichon, 4, und Timofei, 7. | Bild: Taras

Zwischen dem Beschuss versuchten sie, draußen spazieren zu gehen. An den Tankstellen hatten sich schon lange Schlangen gebildet, auch in den Lebensmittelläden und Apotheken. Wenn der Beschuss wieder zunahm rannte die Familie ins Haus, und sie versteckten sich hinter Betonwänden. „Zum Übernachten gingen wir in den Keller.“

Nur noch weg aus Charkiw

Als am neunten Tag eine Granate das Dach des Nachbarhauses wegriss, wollten die Kostenkos nur noch weg aus Charkiw. Sie packten ihren Kombi und versuchten über die Autobahn nach Westen zu fliehen.

Eine Flucht nach Russland schlossen sie aus – „aus Sicherheitsgründen“, sagt Taras. Und weil seine Frau Tanja es nicht mit ihrem Gewissen hätte vereinbaren können. Außerdem seien am Tag zuvor Menschen, die nach Belgorod flüchten wollten, vor der Grenze schossen worden, erklärt Taras.

Auch auf der Autobahn seien sie unter Beschuss geraten. Ein 39 Kilometer langer Stau in der Zentralukraine bei Winnyzja sorgte dann für Stillstand. „Wir sind mit den Kindern vier Stunden lang gestanden,“ sagt Taras. Überholen durften nur Notarzt, Busse und Militärs. Auf der Überholspur gelangten sie schließlich schneller weiter, geleitet von einem Militärfahrzeug – weil seine Frau im 7. Monat schwanger war.

Taras Kostenko, 42. Er floh mit seiner Familie aus der umkämpften Stadt Charkiw im Osten der Ukraine.
Taras Kostenko, 42. Er floh mit seiner Familie aus der umkämpften Stadt Charkiw im Osten der Ukraine. | Bild: Nils Köhler

Nur weil Taras einen russischen Pass hat, durfte er wie auch seine Frau und beide Kinder ausreisen. Über Moldawien ging es in den Westen. Der Kontakt zur „Brücke nach Ufa“ ermöglichte ihnen schließlich den Neuanfang am Bodensee. Vereinsvorsitzende Nadja Wintermeyer vermittelte ihnen eine Wohnung am Bodensee.

Ein Zurück schließen Taras und seine Frau zumindest vorerst aus. „Selbst wenn der Krieg morgen endet, braucht es Zeit, um die Gefahren zu beseitigen und die Sicherheit für einen dauerhaften Aufenthalt in Charkiw zu gewährleisten“, sagt Taras.

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Wie es um seine Firma steht, wird mit jedem weiteren Kriegstag ungewisser. Sie übernahm Aufträge zur Innenausstattung von Häusern, Villen und Hotels. Dafür gibt die Entwicklung der beiden Söhne Anlass zur Hoffnung. Sie haben in Sipplingen Anschluss bei anderen Kindern gefunden.

Der vier Jahre alte Tichon könnte schon bald in den Kindergarten gehen, und Timofei hat nach einer Woche wieder angefangen zu essen. Das Schicksal sollte es diesmal mit Taras und seiner Familie gut meinen.