„Wir haben rund 11.000 Mitglieder und schon vieles erlebt, aber so etwas ist neu für uns und bundesweit einzigartig“, sagt Marco König, Vorsitzender des Deutschen Berufsverbands Rettungsdienst (DBRD) dem SÜDKURIER. Was war passiert?
Ein durchgeimpfter Rettungsfahrer vom Roten Kreuz fuhr am Donnerstag, 8. April, mit einem Kollegen am Beifahrersitz zu einem Rettungseinsatz in Stockach unter Blaulicht und Sirene. Weil seine Brille bei rasanten Einsatzfahrten rasch beschlägt und dadurch keine ausreichende Sicht sowie eine erhöhte Unfallgefahr gegeben wäre, nahm er im Gegensatz zu seinem ebenfalls durchgeimpften Beifahrer seine FFP2-Maske ab.
Kurz darauf wurde er gegen 19 Uhr auf der Linzgaustraße im Stadtteil Winterspüren offenbar geblitzt. Während im Rettungseinsatz begangene Geschwindigkeitsübertretungen nach Erhalt eines Nachweises des Rettungsdienstes nicht von den Behörden exekutiert werden, trudelte am 6. Mai, also vier Wochen nach dem Vorfall, an die private Wohnadresse des Rettungsfahrers ein Strafbescheid über 55 Euro ein: „Am 08.04.2021 um 18.57 wurde in Stockcah-Winterspüren (sic!), Linzgaustraße, festgestellt, dass Sie die vorgeschriebene Mund-Nasen-Bedeckung als Fahrzeugführer nicht getragen haben, obwohl das Fahrzeug mit 2 Personen besetzt war“, schrieb das Ordnungsamt Stockach an den Rettungsfahrer und stellte ihm eine Verkehrsordnungswidrigkeit in Höhe von 55 Euro aus.
Höhere Unfallgefahr bei eingeschränkter Sicht
Der Rettungsfahrer, der dem SÜDKURIER bestätigt, dass sich der Vorfall so zugetragen hat, aber ohne Zustimmung seines Vorgesetzten nicht zitiert werden möchte, wandte sich daraufhin an den Deutschen Berufsverband Rettungsdienst (DBRD) in Lübeck. Dieser unterstützt seine Mitglieder in rechtlichen Auseinandersetzungen und beauftragte umgehend einen Juristen, um Einspruch für den Rettungsfahrer einzulegen. „Die Verwaltung der Stadt Stockach im Landkreis Konstanz hat offensichtlich jegliches Maß verloren“, verkündete der DBRD in einem sozialen Medium. „Dass der Fahrer als Brillenträger durch das Beschlagen der Brillengläser keine ausreichend freie Sicht hat, spielt offensichtlich für das Ordnungsamt keine Rolle.“
Die beiden obersten Leiter des Rettungsdienstes im Landkreis Konstanz, José da Silva und Ralf Kraus, die auch für den Rettungsdienst Stockach zuständig sind, sagen dem SÜDKURIER, dass die Rettungssanitäter angehalten sind, sich an die geltenden Vorschriften zu halten. „Die Gesetzeslage ist klar, da braucht man nicht darüber diskutieren. Aber jedes Amt hat auch einen gewissen Ermessensspielraum“, sagt Kraus. „Ich trage selbst eine Brille und verstehe jeden Brillenträger, wenn er die Maske abnimmt, weil er sonst nichts mehr sieht. Es geht hier auch um die Einsichtigkeit der Stelle“, sagt da Silva.
Marco König, Vorsitzender des DBRD, betont im Gespräch mit dem SÜDKURIER die ohnehin schon mehrfach erhöhte Unfallgefahr bei Einsatzfahrten mit Sonderrechten, also unter Blaulicht und Sirene. „Wenn dann auch noch die Sicht beeinträchtigt ist, steigt die Unfallgefahr weiter. Wir gehen davon aus, dass der Fall jetzt zu den Akten gelegt wird. Aber wir würden auch vor Gericht gehen, weil es nicht um 55 Euro geht, sondern darum, dass auch künftig kein Rettungsfahrer genötigt wird, mit einer beschlagenen Brille und Maske Einsätze zu fahren“, sagt König.
Bußgeldrahmen von 50 bis 250 Euro
Margaretha Lattner, Leiterin der Bußgeldstelle im Ordnungsamt Stockach, sagt auf SÜDKURIER-Anfrage, dass ihre Behörde das Deutsche Rote Kreuz (DRK) bereits am 15. April um Mitteilung gebeten hatte, ob eine interne Regelung bezüglich der Maskenpflicht bei Einsatzfahrten besteht. Antwort habe die Bußgeldstelle keine erhalten. Auf SÜDKURIER-Nachfrage sagt Rotkreuz-Rettungsdienstleiter Ralf Kraus, dass es keine internen Ausnahmen beim Maskentragen gebe. „Eine interne Regelung würde gegen das Gesetz verstoßen, da lässt das Infektionsschutzgesetz gar keinen Spielraum“, sagt Kraus.
Für Behördenleiterin Lattner steht der Infektionsschutz im Vordergrund. „Es stellt für uns keine begründete Gefahr dar und damit eine unzumutbare Situation, wenn die Maske getragen wird. Es gibt bisher keinen Verkehrsunfall, welcher auf eine getragene Maske zurückzuführen ist. Sollten hier nicht Angehörige des Gesundheitsdienstes auch eine Vorbildfunktion wahrnehmen?“, fragt Lattner.
Schließlich würden Polizisten und Feuerwehrleuten bei Einsatzfahrten grundsätzlich einen Mund-Nasen-Schutz tragen. „Wie könnte dies auch gegenüber den anderen Verkehrsteilnehmern begründet werden, wenn wir für das DRK eine Ausnahme erteilen, für andere Verkehrsteilnehmer nicht“, schreibt die Leiterin der Bußgeldstelle Stockach. Sie verweist auch darauf, dass bei der Bemessung der Sanktion der Bußgeldrahmen von 50 bis 250 Euro mit 55 Euro im untersten Bereich angesetzt wurde.
Bundesweiter Präzedenzfall?
Wie groß sind die Spielräume für Ausnahmen von der Maskenpflicht wie auch bei der Sanktionierung? Das Landratsamt Konstanz als neutrale Behörde in diesem Fall teilt auf SÜDKURIER-Anfrage mit, dass „jede Bußgeldbehörde einen Ermessens- und Auslegungsspielraum hat und als Einzige die genaue Sachlage kennt“. Einschätzungen über die Rechtmäßigkeit des Bußgeldes für den Rettungsfahrer mit Brille wollte das Landratsamt Konstanz keine abgeben. Dabei gibt das Ordnungsamt Stockach in seinem Bußgeldbescheid selbst eine Antwort auf die Rechtmäßigkeit: Es muss kein Mund-Nasen-Schutz im Fahrzeug getragen werden, wenn dies aus medizinischen oder sonstigen zwingenden Gründen unzumutbar ist, steht dort sinngemäß geschrieben.
Für Marco König, Vorsitzender des Deutschen Berufsverbands Rettungsdienst (DBRD) in Lübeck, steht das Bußgeld in keinem Verhältnis zu der minimalen Infektionsgefahr im Rettungsfahrzeug. „Deshalb werden wir den Fall bis zum Ende durchfechten, wenn es sein muss, bis zum Bundesverfassungsgericht. Das hätte dann auch Bedeutung weit über Stockach hinaus“, sagt König über einen möglichen Präzedenzfall für Deutschland.