Um 19.32 Uhr ließ sich auch Thomas Bareiß das Gericht des Tages bringen. Es waren Rouladen schwäbische Art, dazu Kartoffelpüree und Rotkraut – ein Menü recht nach dem Geschmack der CDU. Ein Speiseplan, der weder an Fleisch noch an Bratensoße spart. Als seine Parteifreunde längst die Teller geputzt und – diskret – ihr zweites Bier bestellt hatten, fing ihr Spitzenkandidat erst mit dem Zerlegen an. Bareiß fiel um 19.32 Uhr und keine Minute früher ein Mühlstein vom Hals. Anderthalb Stunden nach Schließen der Wahllokale wusste er, dass er erneut in den Bundestag einziehen würde. Zwar gerupft, aber doch als Sieger.
Rouladen bei der CDU
Essen und Trinken gehört bei der CDU dazu. Während Bareiß und seine PC-Helfer die Ergebnisse aus den einzelnen Gemeinden einholten, saßen seine etwa 70 Gäste bereits vor dampfenden Tellern. Das Gestühl war mit feinem weißen Tuch bespannt, das Licht gedämpft. Etwa wie bei einer Goldenen Hochzeit.

Die CDU ist nicht die Partei der Wassertrinker. Bareiß ließ sich bei der Wahl des Lokals nicht lumpen. Er hatte lange gezaudert, wo er feiern oder, schlimmstenfalls, trauern soll. Schließlich fiel die Wahl auf das „Rössle“ in Frohnstetten. Das Wirtshaus ist bekannt, Gäste nehmen teils lange Anfahrten auf sich, um dort die Rouladen zu schneiden.
Bareiß hatte mit dem Schlimmsten gerechnet
Als dann der Reigen der ausgezählten Lokale mit Meßkirch eröffnet wurde und klar wurde, dass der CDU-Mann vorne liegt, kam Beifall auf. Mittelständler atmeten beim Tranchieren des Rinderfleischs auf. Der Trend hielt an. Bareiß ging in allen Wahlbezirken als erster durchs Ziel, von Schömberg bis Beuron.
Er hatte mit Schlimmerem gerechnet. Umfragen teils fragwürdiger Herkunft hatten ihn im Sommer schon Kopf an Kopf mit Johannes Kretschmann gesehen. Der CDU-Mann hatte in den vergangenen Wochen zunehmend nervös gewirkt, hatte sich verhaspelt. Im Licht des Wahlabends erweisen sich diese Umfragen als Humbug.

Seine Frau Andrea stand hinter ihm
Als gegen 18 Uhr die ersten Hochrechnungen einliefen, legte ihm seine Frau Andrea Verpoorten vorsorglich die Hand auf die Schulter. Auch sie hatte wohl mit allem gerechnet.

Nachdem sein Sieg feststand und der Fleischwickel verzehrt war, holte der 46-Jährige Kandidat aus. „Ich bin froh über dieses starke Ergebnis“, sagte er dem SÜDKURIER. Das kommt zunächst als ziemlich eigenwillige Interpretation der 30,1 Prozent an Erststimmen an, die er am Sonntag holte (2017 waren es noch 45 Prozent der Erststimmen gewesen). Kein Wort, über die Tatsache, dass er und seine CDU das schwächste Ergebnis seit 1949 einfahren – in einem Wahlkreis, der für die Konservativen als gesetzt galt und in dem schon CSU-ähnliche Resultate möglich waren (2013 waren es 60 Prozent).
Thomas Bareiß spricht von einer Kampagne gegen ihn
Erst verhalten, dann immer heftiger kommentierte Bareiß seinen Sieg. Man habe eine üble Kampagne gegen ihn gefahren. „Diese Kampagne war auch schmutzig“, sagte er in die Kameras hinein. Früher galt der Wahlkreis 295 als unauffällig. Wer interessierte sich in Hamburg schon für das stille Gäu zwischen Donau und Heuberg? Doch 2021 hatte just dieser Wahlkreis bundesweit für Aufsehen gesorgt, weil zwei der Kandidaten schillerten.
Daran war auch die Organisation Campact beteiligt – ein Verein mit einer Handvoll Mitglieder, der 2021 einige ausgesuchte Wahlkreise aufmischte. Bareiß sah sich gejagt von Campact. „Ich wurde als Klimakiller beschimpft“, kommentierte er in seiner ersten Reaktion am Wahlabend, und: „Es wurden gezielt Gerüchte gestreut. Ich wurde verfolgt und wurde dauernd fotografiert.“ Bei der Wahlparty im „Rössle“ fiel der Stress wie auf Knopfdruck von ihm ab. Er hatte das Mandat geholt. Übrigens war er nicht auf der Landesliste abgesichert. „Ich hatte nie einen Plan B“.

Johannes Kretschmann feierte in einem Kulturzentrum
Während Bareiß unerwartet jubeln konnte, war die Stimmung im Hauptquartier der Grünen auf Moll gestimmt. Dabei war die gewählte Lokalität erste Sahne – ideal, um den Aufbruch der rauen Alb ins Zeitalter der Sonnenblume zu begießen. Johannes Friedrich Kretschmann (JFK) hatte das Fabrikle in Hausen im Tal ausgesucht (Gemeinde Beuron). Die stillgelegte Fabrik dient als Kulturzentrum. Dort töpfern, meißeln oder meditieren Menschen und bestaunen in den kreativen Pausen die nahe Burg Werenwag.
Dem Grünen mit dem bekannten Namen war aber schon früh klar, dass er die Fahrkarte nach Berlin verpasst. JFK, sonst ein mutterwitziger Mensch, ging bedächtig durch die Reihen seiner Unterstützer. Gegen 20 Uhr hatte er aufgegeben. Die August-Umfragen hatten ihm ein falsches Bild vorgegaukelt. Am Ende lag er auf Platz drei, hinter CDU und dem SPD-Mann Robin Mesarosch, der über die Landesliste ins Parlament einzog.

JFK in Schwarz, mit Texasknoten
Ganz in Schwarz gekleidet räumte er seine Niederlage klar ein. „Ich bin enttäuscht und trage die Verantwortung“, sagte er. „Im Wahlkampf fühlte ich noch eine positive Welle.“ Er ist sich sicher: „Ich konnte die Leute nicht überzeugen.“ Dass er den Abgeordnetensitz auch über die Landesliste verpassen würde, wusste er zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Das analytische Abfragen der Ergebnisse war auf den improvisierten Monitoren im Fabrikle nicht ganz so organisiert wie bei der CDU im „Rössle“.
So wollte die Party nicht so recht in Gang kommen. Dabei waren die Vorbereitungen ganz auf Sieg gestimmt. Der Musikverein Laiz war eigens aus Kretschmanns Wohnort angereist, um ihrem Mitbürger ein Ständchen zu spielen. Es waren schmissige Klänge, aber keine Siegermusik. Auf dem Podium mühte sich später der Sänger der „Second Hand Band“ mit den hohen Tönen ab – ein Freddy Mercury war er halt nicht.

Die Anhänger versinken in alten Sesseln
Zum Tanzen war ohnehin den wenigsten zumute. Die Wahlhelfer verteilten sich auf die alten Sofas, die malerisch im Saal verstreut waren. Das Fabrikle könnte auch die Szene in Berlin-Kreuzberg bereichern – es strahlt jene krawattenfreie Gemütlichkeit aus, die zu den Grünen passt. Ebenso die Kulinarik mit Lauchwähen und Avocado-Creme. Rouladen gab es dagegen keine.
Auch die Mutter des Kandidaten, Gerlinde Kretschmann, saß im Publikum, ebenso seine Schwester Irene (45). Vater Winfried Kretschmann war zu diesem Zeitpunkt in Berlin, um bundesweit zu beraten. Richtig glücklich war die Familie nicht, die Enttäuschung stand den beiden Frauen ins Gesicht geschrieben.
Bei der CDU fehlten die Kreisvorsitzenden
Enttäuscht war auch der Kreisvorsitzende der Grünen, Klaus Harter. Und Andrea Bogner-Unden, die erst im März als Landtagsabgeordnete bestätigt worden war. Sie waren zum Gratulieren gekommen und mussten dann trösten. Merkwürdigerweise war zur CDU-Party keiner der beiden Kreisvorsitzenden erschienen – weder die Ministerin Nicole Hoffmeister-Kraut (Vorsitz im Zollernalbkreis) noch Klaus Burger (Sigmaringen). Beide hätten dringliche Termine, hieß es dazu schmallippig.

Kurz vor 22 Uhr trat Johannes Kretschmann nochmals vor seine Anhänger. Da waren die Reihen bereits gelichtet. Er sagt Dank, vor allem an sein Kernteam mit den schwungvollen jungen Frauen. Und Dank an Hanna, die ihn mit Instagram vertraut machte. Über dem Kandidaten hängt lustlos eine Diskokugel. Sie steht und blitzt nicht. „Wir Grünen sind herbe Niederlagen gewöhnt“, sagt er leise.
Plan B hat er nicht. Also bleibt er Rumanist und Dialektologe.