Im Rahmen der Corona-Pandemie verunsichern Horrorgeschichten aus Bergamo oder New York auch die positiv denkenden Menschen und säen Sorge. Wie würden meine Chancen im Zweifelsfall bewertet? Welche Kriterien würden die Ärzte bei der Zuteilung des nächsten freien Beatmungsgerätes anlegen? „Es gibt Menschen, denen machen derlei Gedanken tatsächlich Angst“, berichtet Mediziner Dr. Andrej Michalsen über Sorgen, die an ihn herangetragen wurden.

Noch keine Engpässe im Bodenseekreis
Noch ist es im Bodenseekreis zu keinen Engpässen gekommen. Ungeachtet dessen fragten sich viele Menschen, was wäre, wenn die Versorgungsmöglichkeiten nicht mehr der Versorgungsnotwendigkeit entsprächen? Eine gewisse Entlastung würde der Anästhesist und Notfallmediziner Michalsen daher gerne vermitteln. „Es werden hier von den Medizinern keine willkürlichen Zufallsentscheidungen getroffen“, sagt er: „Es gibt einen medizinisch-ethisch festgelegten Kriterienkatalog und es geht nie allein nach dem kalendarischen Alter von möglichen Patienten.“
Michalsen muss das wissen. Der Überlinger Arzt, der an der Klinik Tettnang tätig ist, gehört der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) an und arbeitet seit vielen Jahren als Autor an deren Publikationen mit. Noch im Dezember hielt Michalsen auf dem letzten Kongress in Hamburg einen Vortrag zum Thema „Beatmung am Lebensende: Verzicht, Begrenzung, Abbruch – wie geht man konkret vor?“
Richtlinien der Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin
Auch an den ethischen Richtlinien der Vereinigung, die ganz speziell auf die Corona-Problematik abgestimmt wurden, war Michalsen beteiligt. „Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und Intensivmedizin im Kontext der Covid-19-Pandemie – Klinisch-ethische Empfehlungen“ lautet der Titel dieser Richtlinien, die erstmals im März gemeinsam von sieben medizinischen Fachgesellschaften publiziert worden waren und in einer überarbeiteten Version in Kürze erneut veröffentlicht werden.
„Die Covid-19-Pandemie ist in einer kaum vorhersehbaren und wohl auch nicht vorhergesehenen Wucht und Geschwindigkeit im wahrsten Sinne über uns ‚hereingebrochen‘“, sagt Michalsen, „sodass der Begriff ‚Tsunami‘ die Entwicklung meines Erachtens ganz gut beschreibt.“ Die massiven Eingriffe in das öffentliche Leben seien daher für ihn persönlich „aus gesundheitswissenschaftlicher Sicht angemessen und aus epidemiologischer Perspektive bislang erforderlich und nutzbringend“. Für das erneute Betretungsverbot der Seepromenade gelte dies aus seiner Sicht allerdings nicht. Die juristischen Zweifel könne und wolle er nicht bewerten. Allerdings bedürften alle Maßnahmen, die Grundrechte einschränken, regelmäßig einer Kontrolle.
Intensivbehandlungs-Kapazitäten massiv ausgeweitet
Medizinisch fürchteten viele Menschen nach wie vor neben den Infektionsrisiken für sich selbst und andere insbesondere, so Michalsen, dass sie „nicht mehr ausreichend zügig und sachgerecht behandelt werden können“ und dass sie „in Konkurrenz zu anderen Patienten treten müssen, wenn es um die Verteilung von knappen Ressourcen geht“. Eine solche Priorisierung sei weder im Helios-Spital noch am Medizin-Campus Bodensee mit den Kliniken Friedrichshafen und Tettnang erforderlich gewesen. In allen Häusern seien die Intensivbehandlungs-Kapazitäten massiv ausgeweitet worden.
Jedes Individuum gleichwertig
Im Zweifel gebe es die erwähnten ethisch-medizinischen Richtlinien, auf deren Grundlage solche Entscheidungen getroffen werden können und sollen. Ganz wichtig ist Michalsen, dass zunächst alle Patienten „als Individuen gleichwertig eingeschätzt werden, wie gut sie von dieser Maßnahme profitieren könnten, wenn sie angewandt würde“. Diese Erfolgsaussicht sei in der Regel nicht gleich verteilt. „Es werden im Sinne der Verteilungsgerechtigkeit dann diejenigen die Maßnahme erhalten, die den größten Nutzen davon haben“, sagt der Arzt. Dafür gebe es die konkreten Kriterien. Weder hänge die Chance auf eine Behandlung von der Willkür der Mediziner ab noch allein vom Alter des Patienten, sondern vor allem von der Schwere der jeweils augenblicklichen Erkrankung und von den eventuellen Vorerkrankungen des Patienten.

Situation in den Überlinger Altenpflegeheimen
Michalsen war auch an der Gründung des Arbeitskreises Ethik am Helios-Spital Überlingen im Jahr 2007 beteiligt, der inzwischen von Dr. Christian Kühnl, dem ehemaligen ärztlichen Direktor des Helios-Spitals, und von Elsie Fickenscher koordiniert wird. In einem Corona-Fall musste der Arbeitskreis bislang nicht gehört werden, sagt Kühnl: „Die Versorgung mit Intensivbetten und Beatmungsgeräten war im ganzen Kreis stets ausreichend.“ Allerdings war er mit dem Überlinger Palliativmediziner Stefan Brenner schon in den ersten Wochen der steigenden Infektionsraten aktiv geworden. Gemeinsam nahmen sie die Situation in den Überlinger Altenpflegeheimen und den Gesundheitszustand der Bewohner unter die Lupe. „Bislang ist uns dort keine Infektion bekannt geworden“, sagt Kühnl. Der Arbeitskreis Ethik stehe auch in engem Kontakt mit Dr. Ole Beyer, dem Chefarzt für Anästhesie am Helios-Spital.
Gerade in Altenheimen sei die Kenntnis von Patientenverfügungen und Vorsorgevollmachten ganz wichtig. „Inwieweit ist es im Einzelfall gewünscht oder ausgeschlossen, dass ein schwer erkrankter Mensch mit akutem Lungenversagen aus dem Pflegeheim zu einer künstlichen Beatmung auf die Intensivstation des Krankenhauses verlegt wird?“, formuliert Christian Kühnl die kritische Fragestellung. Das Patientenwohl stehe stets im Zentrum. Doch wenn es keine medizinische Option gebe, die man einem Menschen zumuten dürfe, bleibe lediglich die palliativmedizinische Versorgung, um das Leiden zu minimieren.