Es ist eine seltsame Diaschau, die im Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main gezeigt wird. Die Anklage sieht in den Bildern Hinweise darauf, dass eine mutmaßliche Terrorgruppe eine gewaltsame Erstürmung des Bundestags plante und Tote in Kauf genommen hätte. Zwei frühere Bundeswehr-Elitesoldaten sollen die Fotos gemacht haben, als sie von der damaligen AfD-Bundestagsabgeordneten Birgit Malsack-Winkemann durch den Bundestag geführt worden sind. Sie sind Angeklagte in einem der größten Terrorprozesse der Bundesrepublik. Sie gehören zu einer Gruppe um Heinrich XIII. Prinz Reuß, die einen Staatsstreich geplant haben soll – aus Hass auf die staatliche Ordnung. Angeklagt ist auch die aus Frickingen stammende frühere Basis-Politikerin Johanna Findeisen. Für alle Angeklagten gilt die Unschuldsvermutung.
Es ist Tag 57 am Oberlandesgericht. Der Prozess begann vor bald einem Jahr, ein Ende ist nicht absehbar. „Wenn es in diesem Schneckentempo weitergeht, kann es noch zwei Jahre dauern“, sagte Roman von Alvensleben, Rechtsanwalt von Prinz Reuß, gegenüber dem SÜDKURIER. Findeisen sitzt seit fast zwei Jahren in Untersuchungshaft. Wenn das Gericht von einer geringeren Straferwartung ausgehen würde, hätte es die U-Haft mittlerweile aufheben müssen. In einem weiteren Prozess aus der Reichsbürger-Szene, in dem die geplante Entführung von Gesundheitsminister Lauterbach und ein Umsturz geplant waren, verhängte das OLG Koblenz Haftstrafen von bis zu acht Jahren.
Gericht: „Solange, wie es die Wahrheitsfindung erfordert“
Zur Frage nach der Prozessdauer sagte eine Sprecherin des OLG: „Das Verfahren dauert so lange, wie es die Wahrheitsfindung erfordern wird.“ Bei neun Angeklagten, Akten in einem Umfang von 100 Umzugskisten und bislang 260 benannten Zeugen (von denen erst 13 vernommen worden sind), sei die Beweisaufnahme entsprechend „zeitintensiv“. Pro Woche sind zwei Sitzungstage angesetzt, die vor- und nachbereitet werden müssten. „Eine engere Taktung ist für eine sinnvolle Verfahrensgestaltung nicht umsetzbar.“
Findeisen wird wie eine Schwerverbrecherin in den Gerichtssaal geführt, untergehakt von zwei Beamtinnen, die sie an ihren Platz begleiten. Bei dem Gerichtsgebäude im Frankfurter Stadtteil Sossenheim handelt es sich um ein Provisorium in Containerbauweise, mit Stacheldraht umzäunt, von Videokameras beäugt und von Polizisten in Mannschaftswagen gesichert. Es wurde eigens für diesen Mammutprozess gebaut, eines der größten Staatsschutzverfahren in der Geschichte der Bundesrepublik.
Man herzt sich und scherzt miteinander
Als Findeisen an diesem 57. Prozesstag ins Gericht geführt wird, trägt sie ein knielanges graues Sommerkleid und eine Jeans, einen grauen Kapuzenpulli und sportliche Stoffschuhe. Ein weißes Tuch hat sie um die Schultern gewickelt, um den Hals trägt sie eine Kette mit einem auffallend großen christlichen Kreuz. Sie und ihr Rechtsanwalt Hans Böhme begrüßen sich wie zwei alte Bekannte, man drückt und herzt sich – es gibt ganz offensichtlich viel zu scherzen. Ihr zweiter Anwalt, der Bielefelder Uni-Professor Martin Schwab, ist an diesem Tag nicht zugegen.

Der Inhalt des Gesprächs zwischen Anwalt und Mandantin dringt nicht bis zu den Besuchern durch. Sie sind durch eine Glasscheibe getrennt und hören im Besuchertrakt nur das, was von den Verfahrensbeteiligten über Mikrophon übertragen wird. Der Besucherraum böte Platz für 50 Journalisten und nochmal so viele Besucher. 90 Prozent der Plätze bleiben aber leer. Unter den Besuchern sind Leute aus der Bewegung der Corona-Impf-Kritiker, die ihre Solidarität mit Findeisen zum Ausdruck bringen: Durch diskreten Blickkontakt, Kopfnicken, Winken, die Hände zu einem Herz formend. Darunter eine Frau aus Karlsruhe, die den Prozess für eine Farce hält und meint, dass sie froh sei, mit ihrer impfkritischen Haltung nicht auch festgenommen worden zu sein.
Zur Vorbereitung einer Reichstag-Erstürmung?
Zurück zu den im Prozess gezeigten Fotos: Sie zeigen unterirdische Flure aus dem Reichstagsgebäude, Verbindungsgänge zum Paul-Löber-Haus, Fotos von Wegweisern oder von Druckknöpfen in einem Fahrstuhl. Die Aufnahmen zeigen keine geheimen oder sicherheitsrelevanten Bereiche im Regierungsviertel, wie ein Polizeibeamter des Bundestags im Zeugenstand erklärte. Zu sehen ist aber auch nicht gerade das, was eine normale Reisegruppe im Bundestag als touristisches Foto festhalten würde. Nach Überzeugung des Generalbundesanwalts belegen die Bilder vielmehr Vorbereitungen für einen gewaltsamen Sturm auf den Bundestag.
Der Prozess ist aus logistischen Gründen auf drei Gerichtsorte aufgeteilt. Frankfurt, München und Stuttgart. In Frankfurt sitzt die mutmaßliche Führungsriege, die nach dem Umsturz eine Übergangsregierung unter Führung von Prinz Reuß bilden wollte. Welche Rolle Johanna Findeisen dabei genau gespielt haben soll? Die Ermittler des Generalbundesanwalts werfen ihr in der Anklage vor, an Sitzungen des sogenannten Rats teilgenommen und Spenden eingesammelt zu haben. Außerdem soll sie versucht haben, Kontakt zum russischen Generalkonsul aufzunehmen, wohl in der Hoffnung, dass der Kreml ihnen bei einem Umsturz zur Hilfe eile. Rechtsanwalt Hans Böhme aus dem Verteidigerteam von Findeisen sagte dem SÜDKURIER: „Meine Mandantin ist ein absolut friedlicher Mensch, der ein Leben lang anderen Menschen Hilfe leisten wollte.“ Dass sie einen gewaltsamen Umsturz geplant habe, schließt er aus.
Sahen sich als Auserwählte einer höheren Macht
Nach allem, was aus den Ermittlungsakten bislang hervorgeht, war Findeisen angetrieben von der Suche nach einem Tunnelsystem, in dem „politische Eliten“ angeblich rituell satanische Kindermorde verüben. Es handelt sich dabei um Verschwörungsmythen der rechtsradikalen Qanon-Bewegung, die mit der Realität nichts zu tun haben. Nach Überzeugung derer, die an diese Fantasiegebilde glaubten, brächten entsprechende „Enthüllungen“ das politische System der Bundesrepublik ins Wanken. Zwei Brüder aus der Schweiz haben Findeisen und andere aus der Reuß-Gruppe wohl hinters Licht geführt, indem sie behaupteten, die Tunneleingänge zu kennen. Für ihre Recherchen sollen sie fast 140.000 Euro kassiert haben.
Zu den kruden Theorien der Gruppe um Prinz Reuß kommt des Weiteren der Glaube an eine „Allianz“, an eine intergalaktische Macht, die den Sturz herbeiführen würde. In Frankfurt sitzen Angeklagte, die von sich behaupteten, dass sie Verbindungsleute zur „Allianz“ seien. Die engen Vertrauten von Prinz Reuß betrachteten sich als Auserwählte, die dazu auserkoren worden seien, nach dem Sturz die Regierungsgeschäfte zu übernehmen.
Täter und Opfer auf der Anklagebank?
„Das sind wahnwitzige Ideen, vielleicht auch Irrsinn. Aber ist das gefährlich? Ich meine nein.“ Das sagte Roman von Alvensleben, Rechtsanwalt aus Hameln, der Prinz Reuß vertritt. Gegenüber dem SÜDKURIER schilderte er, dass in Frankfurt „keine homogene Gruppe“ angeklagt sei, die, wie die RAF, von dem einen Ziel zusammengeschweißt wurde. „Ich halte die hier angeklagten Menschen nicht für Terroristen. Teilweise sind es verwirrte, auch verirrte Menschen, die sich an den Maßnahmen, die während der Coronazeit festgesetzt worden sind, gestört und sich gefunden haben, aus ganz unterschiedlichen Gründen.“
Prinz Reuß habe „Partikularinteressen“ verfolgt, „ihm ging‘s um das Fürstentum Reuß und die Ländereien, das war seine Lebensaufgabe“. In Chats mit dem Mitangeklagten Peter W., einem ehemaligen Elitesoldaten, wurde Reuß mit „königliche Hoheit“ angesprochen. Das hat dem Adeligen gefallen, der in der Reichsbürgerszene die Wiedererlangung enteigneter Grundstücke suchte. Rechtsanwalt von Alvensleben sprach im Prozess von „der Lüge, die es brauchte, um das Geld der anderen zu erlangen“. Er wähnt sich deshalb eher in einem Betrugsprozess, in dem Täter und Opfer gemeinsam auf der Anklagebank sitzen. „Wir müssen überlegen, ob sie Mitglieder einer terroristischen Vereinigung sind, oder ob sie nur getäuscht worden sind.“
Hans-Otto Sieg, Rechtsanwalt aus Frankfurt, ebenfalls Verteidiger von Prinz Reuß, verfolgt die Strategie, den Tatvorwurf des geplanten Hochverrats in sich zum Einsturz zu bringen. Er verweist auf Vernehmungsprotokolle, wonach ein Sturm auf den Bundestag für die Gruppe kein Thema (mehr) gewesen sei, vielmehr hätten sie allenfalls geplant, eine neue staatliche Ordnung aufzubauen, wenn die „Allianz“ sie zerstört und für Unordnung gesorgt hätte. Sieg nimmt Bezug auf die Rechtsprechung des BGH, wonach Paragraf 129 des Strafgesetzbuchs voraussetze, dass es zu den Taten, die dort genannt sind, kommen kann. Sieg in einem Antrag auf Haftverschonung: „Es konnte nicht dazu kommen, weil es die Allianz nicht gab.“
Grausam hätten sie gegen sich selbst gerichtet
Aber was wäre denn gewesen, wenn ein Teil der Gruppe die Ankunft der „Allianz“ nicht abgewartet hätte, sondern selbst zur Tat geschritten wäre? Nach Erkenntnis der Ermittler gab es Streit innerhalb der Gruppe, welches äußere Zeichen, etwa der Tod der Queen, als Signal dafür galt, „dass es nun losgeht“. Ein milderes Urteil hätten die Angeklagten laut Paragraf 83a des Strafgesetzbuchs dann zu erwarten, wenn sie die Tat und Planung nicht nur freiwillig aufgegeben hätten: Sondern wenn sie zusätzlich versucht hätten, die potenzielle Gefahr, die von ihren Komplizen ausgeht, abzuwenden. Zum Beispiel, indem sie die anderen verpfeifen. Zu so einem Abbruch kam es aber nicht. Wohl auch deshalb, weil die Angeklagten Verschwiegenheitserklärungen unterzeichneten, auf denen stand, was laut ihren eigenen Gesetzen Verrätern droht: Die Todesstrafe.