Bei diesem Rundgang kam so mancher Stadtrat, egal ob Mann oder Frau, aus dem Staunen nicht mehr heraus. 220 Tonnen, so viel wie drei Lokomotiven, wiegt das gigantische Getriebe samt Generator und Hauptachse. In Friedrichshafen sehen dagegen selbst die größten Getriebe, die hier vom Band laufen, wie Zwerge aus.

Schon in zwei Wochen soll der Prototyp des ZF Power Train mit einer Leistung von erstmals 15 Megawatt in ein Windrad des dänischen Herstellers Vestas eingebaut werden. Kostenpunkt: Mehr als zehn Millionen Euro. Vorher fotografieren dürfen wir das Mega-Getriebe nicht. Der Gemeinderat bekam es exklusiv zu Gesicht.

Ein Kraftwerk mitten im Meer

„Blue Marlin“ nennt sich das Projekt von Vestas und ZF. Dahinter steckt die größte und leistungsstärkste Windturbine der Welt – wenn sie oben ist. Ein Kraftwerk mitten im Meer, das jährlich 80 Millionen Kilowattstunden Strom erzeugen soll. „Mit sechs Windrädern dieser Größe könnte man Friedrichshafen komplett mit Energie versorgen“, suchte Felix Henseler, Leiter von ZF Wind Power, nach einem passenden Vergleich. Nur dass am Bodensee der Wind längst nicht so ergiebig bläst wie in der Nordsee.

Felix Henseler (Mitte), Leiter von ZF Wind Power, erläutert dem ZF-Vorstandsvorsitzenden Wolf-Henning Scheider und Stadträten aus ...
Felix Henseler (Mitte), Leiter von ZF Wind Power, erläutert dem ZF-Vorstandsvorsitzenden Wolf-Henning Scheider und Stadträten aus Friedrichshafen die Produktion im ZF-Werk in Lommel. | Bild: zf

Zahnräder und Getriebe in Übergröße sind das Hauptgeschäft des ZF-Werks in Lommel, das sich der Friedrichshafener Gemeinderat bei einer Fachexkursion nach Flandern Ende vergangener Woche angeschaut hat. In der belgischen Kleinstadt ist der Hauptstandort von ZF Wind Power. Hier werden Getriebe gebaut, die riesige Windräder an Land und „offshore“ auf den Meeren antreiben und sauberen Strom produzieren. Eine ZF-Sparte, die bisher weniger im Fokus seiner Gesellschafter stand, mit der Energiewende aber deutlich interessanter wird.

In der Nähe des ZF-Werks in Lommel gibt es einen großen Windkraftpark, in dem freilich auch ZF-Technik hoch oben in der Gondel sitzt.
In der Nähe des ZF-Werks in Lommel gibt es einen großen Windkraftpark, in dem freilich auch ZF-Technik hoch oben in der Gondel sitzt. | Bild: Cuko, Katy

Während in Autos und Lastkraftwagen Getriebe bald nicht mehr gebraucht werden, weil sie elektrisch fahren, setzen die meisten Hersteller von Windkrafträdern auf die gute, alte Technik. Dass ZF da weltweit ganz vorn mitmischt, hat viel mit Kompetenz und Erfahrung beim Bau von hochpräzisen Zahnrädern zu tun. Denn von „Rädchen“ kann man bei Windkraftanlagen nicht sprechen. Die Kräfte, die da hoch oben wirken, sind gigantisch, wenn über 100 Meter lange Rotorblätter an der Nabe hängen. Mit einem Durchmesser von knapp drei Metern etwa stand ein Hohlrad zu Demonstrationszwecken in der Werkshalle, das längst nicht das größte ist, was ZF in Lommel herstellt.

Etwa drei Meter im Durchmesser misst dieses Hohlrad, das in Windkraftanlagen an der Rotornabe „sitzt“.
Etwa drei Meter im Durchmesser misst dieses Hohlrad, das in Windkraftanlagen an der Rotornabe „sitzt“. | Bild: Cuko, Katy

Dabei ist der Konzern nicht erst seit gestern im Windkraft-Geschäft. Im Jahr 2007 kaufte ZF den belgischen Hersteller Hansen auf, der bis dahin in Lommel produzierte. 2015 übernahm ZF mit Bosch Rexroth auch dessen Windgetriebe-Sparte und das Werk in Witten. Heute ist ZF Wind Power an sechs Standorten vertreten, auch in China, Indien und den USA. 80.000 Windturbinen mit ZF-Technik drehen sich bereits auf der ganzen Welt. Der Konzern kann für kleine, mittelgroße und ganz große Windräder das passende Getriebe liefern. 25 Prozent der Energie, die Windkraft-Anlagen mit Getrieben heute global erzeugen, sind somit „made by ZF“.

Eine Werkshalle bei ZF in Lommel wird für den Aufbau eines neuen Prüf- und Teststandes vorbereitet. Felix Henseler von ZF Wind Power ...
Eine Werkshalle bei ZF in Lommel wird für den Aufbau eines neuen Prüf- und Teststandes vorbereitet. Felix Henseler von ZF Wind Power erklärt Stadträten aus Friedrichshafen, was geplant ist. | Bild: MEDIALIFE.BE

Allerdings ist die Windkraft-Sparte im Vergleich zu anderen Geschäftsfeldern noch ein laues Lüftchen – allerdings mit starkem Wachstum. Im vergangenen Jahr betrug der Umsatz eine Milliarde Euro, so Henseler, vier Mal so viel wie vor zehn Jahren. Bis 2030 will ZF Wind Power seinen Umsatz wenigstens verdoppeln. Angesichts großer Investitionsprogramme, die sowohl in Europa als auch in Amerika geplant sind, wäre sogar eine Verdreifachung denkbar.

Windkraft als „Arbeitspferd“ der Energiewende

Zahlreiche Studien sagen: Ohne Windkraft, das „Arbeitspferd der Energiewende“, ist der Ausstieg aus der Energieversorgung mit fossilen Brennstoffen nicht zu schaffen. 165 Gigawattstunden Strom liefern Windkraftanlagen heute weltweit pro Jahr – so viel wie 56 Atomkraftwerke. „Damit kann man 140 Millionen Einfamilienhäuser versorgen oder 100 Millionen Autos laden, wenn sie 20.000 Kilometer pro Jahr fahren“, verdeutlicht Felix Henseler die vorhandenen Dimensionen. Wenn die Weltgemeinschaft ihre Klimaziele aber schaffen will, müssten jedes Jahr Anlagen mit 300 Gigawattstunden zugebaut werden.

So soll er aussehen, der Test- und Prüfstand für den „Powertrain“. Das ZF-Getriebe ist Herzstück einer neuen Generation von ...
So soll er aussehen, der Test- und Prüfstand für den „Powertrain“. Das ZF-Getriebe ist Herzstück einer neuen Generation von Windrädern mit einer Leistung von 30 Megawatt, erklärt ein Ingenieur im Beisein von Werksleiter Koen Christiaensen (rechts). | Bild: Cuko, Katy

ZF sieht sich für diesen Wettlauf gut gerüstet, erklärte der Chef von ZF Wind Power den Ratsvertretern nach der Werksführung. Er rechnet ab 2024 mit einem Windkraft-Boom. Dafür müsse der Konzern aber schon heute investieren. In Lommel wird gerade eine Werkshalle zum weltgrößten Testzentrum für Prototypen umgebaut. Die Dimensionen dürften die Ingenieure in Friedrichshafen umhauen: 60 Meter lang und 15 Meter hoch ist der Prüfstand, auf dem die Windkraft-Turbine der nächsten Generation mit einer Leistung von 30 Megawatt getestet werden soll – ein Quantensprung in der Windkrafttechnik. 54 Millionen Euro kostet das Projekt. Die Anlage soll 2024 in Betrieb gehen.

Ein Speziallaster transportiert den Antriebsstrang für ein Windkraftrad vom ZF-Werksgelände in Lommel zu einem nur vier Kilometer ...
Ein Speziallaster transportiert den Antriebsstrang für ein Windkraftrad vom ZF-Werksgelände in Lommel zu einem nur vier Kilometer entfernten Kanal, wo die Turbine verschifft wird. | Bild: zf

Bleibt die Frage: Ginge das nicht auch am Produktionsstandort in Friedrichshafen? Kaum, meint Produktionsleiter Koen Christiaensen. Zumindest nicht für Offshore-Windräder. Denn die Logistik ist eine Herausforderung. Maximal 40 Tonnen darf ein Laster transportieren. Schon in Lommel werden die riesigen und megaschweren Turbinen verschifft, via Kanal zum Hafen Antwerpen und damit direkt ans Meer transportiert, von wo sie auf Frachtern an den Zielort geschickt werden. Genau dahin, wo das neue Windrad aufgebaut wird.

Für den ZF-Vorstandsvorsitzenden Wolf-Henning Scheider war es übrigens die letzte Werksfahrt mit dem Gemeinderat der Stadt Friedrichshafen, dem Gesellschafter des Konzerns. Scheider verlässt zum Jahresende den Konzern.