Max P. (Name von der Redaktion geändert) hat seit seiner Einschulung an der Bodensee-Schule Friedrichshafen im September 2020 nur wenige Wochen in einem Klassenzimmer verbracht. „Erst gab es lange Schulschließungen – und als der Wechselunterricht begann, haben wir ihn nicht mehr zurückgeschickt, die Präsenzpflicht war ja ausgesetzt“, berichtet sein Vater leise bei der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht Tettnang.
Der Vater ist heute hier, um sich gegen einen Bußgeldbescheid des Friedrichshafener Ordnungsamts zu wehren. Die Schule hatte ihn mit Wiedereintritt der Präsenzpflicht im September wegen des Verstoßes gegen das Schulgesetz angezeigt. Er sollte für eine zweiwöchige Fehlzeit 180 Euro zahlen. Mittlerweile sind viele weitere Wochen vergangen, in denen das Kind nicht in die Schule geht.
Achtjähriger ist seit eineinhalb Jahren im Homeschooling
Später wird Richter Peter Pahnke die heutige Verhandlung als „Ouvertüre“ bezeichnen. Denn klar ist: Da der Junge auch heute noch keinen Präsenzunterricht besucht, wird es weitere rechtliche Konsequenzen geben müssen.
Was treibt den geschiedenen Vater, seinen kleinen Sohn seit eineinhalb Jahren neben dem Vollzeitjob im Homeoffice zuhause zu unterrichten? „Er lehnt die Tests ab, hat Angst“, sagt der Mann. Und da nicht-getestete Kinder ein Betretungsverbot haben, bleibt Max P. zuhause. Dann erzählt er von einem Nachbarskind, das aufgrund einer Quarantäne die eigene Einschulung verpasst hat. Max P. habe das mitbekommen, die Verzweiflung des befreundeten Kindes, die Wut. Und er wolle nicht auch in Quarantäne kommen.
Damit der Achtjährige weiter Sozialkontakte zu Gleichaltrigen hat, geht er mehrmals wöchentlich in eine Lerngruppe. Richter Pahnke wird hellhörig: „Gehen die anderen Kinder dieser Gruppe auch nicht in die Schule?“ Der Vater nickt. Die sozialen Netzwerke sind voll von solchen Lerngruppen, die sich während der Pandemie gebildet haben. Freilerner, Maskengegner, Testverweigerer treffen sich hier. Die Corona-Verordnung (VO) Schule hat genau das lange ermöglicht, denn die Präsenzpflicht war bis September 2021 ausgesetzt.
Immer häufiger landen Fälle von Schulverweigerern vor Gericht
Seitdem die Präsenzpflicht wieder gilt, befassen sich auch immer häufiger Gerichte mit Schulverweigerern. „Das ist erst der Anfang, das wird uns noch eine ganze Weile beschäftigten“, sagt Richter Pahnke im anschließenden Gespräch mit dem SÜDKURIER und verweist auf etliche weitere Verfahren, die auf seinem Schreibtisch liegen, teilweise auch gegen strafmündige Schüler selbst, die einfach abgetaucht sind.
Auch Steffen Rooschüz, Geschäftsführender Schulleiter in Friedrichshafen, sieht mehr schulabstinente Kinder aufgrund der Schulschließungen und einem allgemeinen Rückzug und depressiven Tendenzen. „Hier mussten einige Schüler wieder gut abgeholt, eingebunden und aufgefangen werden. Die Präsenzpflicht nach den Sommerferien 2021 war unbedingt erforderlich, sinnvoll und zielführend, da wir vorher einige verloren hatten“, sagt er auf Nachfrage.
Im Fall von Max P. hat die Wiedereinführung der Präsenzpflicht bislang nichts genutzt. Als klar war, dass der Zweitklässler auch im September nicht in die Schule kommt, zog die Bodensee-Schule rechtliche Konsequenzen und zeigte den Vater beim Ordnungsamt an. „Wir hatten ein Gespräch mit den Eltern und regen Mailverkehr“, sagt Konrektor Steffen Artmeier vor Gericht aus, „wir haben erklärt, dass eine Abmeldung nur aus gesundheitlichen Gründen möglich ist.“
Für Schüler mit einem erhöhten Risiko sieht die Corona-Verordnung Ausnahmen von der Präsenzpflicht vor. Die Bodensee-Schule habe angeboten, dass Max P. die Tests in einem Testzentrum macht. Aber auch das lehnten die Eltern ab und ließen den Jungen, der überwiegend beim Vater lebt, zuhause. Seither mahnt der Konrektor wöchentlich die Fehlzeiten des Grundschülers beim Ordnungsamt an. Mittlerweile sind mehrere Wochen zusammengekommen.
„Gerne hätten wir ihn gefragt, wie es ihm geht. Aber er kommt nicht.“Steffen Artmeier, Konrektor Bodensee-Schule
In der vergangenen Woche sei Max P. erstmals wieder in die Schule gekommen – zu einer Leistungsüberprüfung. „Er war eine Stunde da, hat drei Tests geschrieben und ist wieder nachhause“, berichtet Artmeier. Gerne hätte er ihn gefragt, wie es ihm gehe, ob er seine Mitschüler nicht vermisst, warum er nicht kommt. „Aber wir sehen ihn ja nicht.“
Wie die schulischen Leistungen des Zweitklässlers sind, will der Richter wissen. „In Mathe gut, in Deutsch bei etwa 60 Prozent“, antwortet der Konrektor, „aber gerade in der Grundschule geht es ja mehr als um Lernstoff, es geht auch um Interaktion mit anderen Kindern, Gruppenarbeit, um gezielte schulische Förderung. Das fehlt jetzt.“
Richter Pahnke fällt das Urteil an diesem Tag nicht schwer. Der Vater muss das Bußgeld bezahlen. „Ich persönlich finde auch nicht alles gut, was in der Corona-Verordnung steht“, sagt Pahnke vor der Urteilsbegründung, „aber meine Aufgabe ist es, geltendes Recht anzuwenden.“ Menschen, die gegen die Corona-Verordnung vorgehen, müsse man nicht gleich in die rechte Ecke stellen, wie es häufig passiert. „Für ihr Vorgehen fehlt mir allerdings auch jedes Verständnis. Sie sind als Vater dafür verantwortlich, dass ihr Kind in die Schule geht.“
Der Großteil der Schüler mache die Tests und als Eltern müsse man dem Kind dann Hilfestellung geben, wenn es Angst habe. „Diese Leistungsnachweise, die Ihr Sohn erbringt, sind nur eine Hilfskrücke und ersetzen keinen regulären Schulbesuch“, sagt der Richter. Er müsse damit rechnen, dass noch einiges nachkommt, wenn der Junge weiter nicht in die Schule geht.