Frau Dr. Hoehne, viele Kinder und Jugendliche sind während der Pandemie stark psychisch belastet. Führen Sie in der Praxis bereits eine Warteliste?

Ja. Wir müssen bereits sehr stark zwischen Notfällen und Patienten, bei denen es nicht hochdringend ist, unterscheiden. Wir haben in den dunkleren Winterhalbjahren immer mal Situationen gehabt, in denen wir sortieren mussten, aber die Lage hat sich in der Pandemie enorm verschärft. Die Anfragen haben auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Altersstufen stark zugenommen – und manche müssen leider warten.

Was sehen Sie bei den Kindern nach zwei Jahren Pandemie?

Bei den Jüngeren sehen wir nach den Kita- und Schulschließungen, dass viele Kinder nicht mehr mit dem Lernen und dem Leben in Gemeinschaft klarkommen. Durch die Isolation ist das soziale Lernen der Kinder unterbrochen worden, die waren ja voll auf sich und ihre Familien zurückgeworfen. Ein Kind, das kurz vor Beginn der Pandemie eingeschult wurde und jetzt in der dritten Klasse ist, hatte keinerlei Kontinuität in seiner bisherigen Grundschulzeit. Es hat zwei Mal erlebt, dass Schulen monatelang geschlossen wurden. Digitalunterricht in der Grundschule funktioniert nicht, denn zum Lernen in dem Alter gehört immer das Lernen in Gemeinschaft und die Interaktion mit einem Gegenüber. Das können Eltern nicht ersetzen, sie sind keine Lehrer. Und viele Eltern mussten nebenher arbeiten, da blieb viel auf der Strecke.

Dagmar Hoehne hat 26 Jahre lang eine Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Friedrichshafen geleitet. Im Sommer 2020 hat sie die ...
Dagmar Hoehne hat 26 Jahre lang eine Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Friedrichshafen geleitet. Im Sommer 2020 hat sie die Praxis an ihren Nachfolger Christian Höhne übergeben, der zwar einen gleichen Namen mit anderer Schreibweise trägt, aber nicht mit ihr verwandt ist. Sie selbst ist noch angestellt in der Praxis. | Bild: Mommsen, Kerstin

Und wie ist das bei Jugendlichen?

Bei den Jugendlichen sehen wir vermehrt Depressionen, Panikstörungen, aber auch prä-psychotische Zustände, ein Verspinnen in seltsame Ideen durch die Isolation und den wenigen Austausch mit Gleichaltrigen. Auch der Medienkonsum hat enorm zugenommen. Die Medienzeiten wurden in vielen Familien während der Lockdowns verständlicherweise deutlich ausgeweitet – und jetzt wird es schwer, das wieder auf ein Normalmaß zu bringen. Mobbing ist auch ein großes Thema, was deutlich häufiger auftritt als früher – insbesondere auch über Medien – und dann wiederum zu schulmeidendem Verhalten führt. Manche Jugendliche haben auch suizidale Krisen entwickelt.

Das heißt, es gibt mehr Jugendliche, die sich umbringen wollen?

Suizidale Krisen treten im Jugendalter ab zwölf Jahren gehäuft auf, das war auch schon vor der Pandemie so. Allerdings hat der Vorstellungsgrund Suizidalität während der Pandemie zugenommen. Ob Suizidversuche tatsächlich zugenommen haben, weiß ich nicht. Zu uns kommen keine akuten Notfälle, sondern eher Eltern, die uns berichten, dass ihre Kinder suizidale Absichten geäußert haben oder Zusammenbrüche hatten, weil es eine gewisse Aussichtslosigkeit gibt. Diese Fälle haben zugenommen und werden bei uns als priorisierte Notfälle behandelt.

Das könnte Sie auch interessieren

Sind die langen Kita- und Schulschließungen die Hauptursache dafür, dass es vielen Kindern und Jugendlichen so schlecht geht?

Schule und Kita sind ja viel mehr als nur ein Ort, an dem gelernt wird. Hier finden die sozialen Kontakte der Kinder und Jugendlichen und das soziale Lernen statt. Das fiel jetzt lange weg, genauso wie Hobbys, Verabredungen und vieles mehr. Ich würde das gerne zweiteilen: Während des ersten Lockdowns im März 2020 wusste man sehr wenig über das Virus und seine Verbreitung. Mit dem Wissen von damals war die Schließung zunächst mal eine richtige Reaktion. Den zweiten Lockdown fand ich für die Kinder fragwürdig, denn dass wir mit den Folgen jetzt lange zu kämpfen haben werden, war absehbar. Man wusste bereits vom ersten Lockdown, dass sich die sozialen Ungerechtigkeiten verschärft hatten und die Hoffnung, dass das im zweiten Lockdown mit dem Online-Unterricht viel besser klappt, war doch Augenwischerei. Das klappt bis heute in vielen Schulen nicht richtig, und bei den jüngeren Kindern ohnehin nicht.

Für Mathe gibt es Nachhilfeprogramme. Aber können Kinder und Jugendliche überhaupt aufholen, was sie jetzt in den zwei Jahren an sozialer Interaktion verpasst haben?

Das weiß ich nicht. Hier möchte ich am eigenen Beispiel arbeiten. Meine Mutter hat mich nicht in den Kindergarten geschickt, weil sie nicht wollte, dass ich krank werde. Ich kam in die Schule – bar jeglichen Verhaltens in einer Kindergruppe. Ich habe das dann schon gelernt, irgendwie, aber ich behaupte heute noch, dass es einen großen Unterschied macht, ob sich etwas altersgerecht entwickelt – oder ob etwas im Nachhinein gelernt werden muss. Das soziale Miteinander, das Sich-langsam-an-Regeln-herantasten, gegenseitige Rücksichtnahme usw. – das ist etwas, wo wir uns als Gesellschaft gut überlegt haben, dass es wichtig ist, dass Kinder das in Kindergärten und Grundschulen lernen – und nicht in der Isolation aufwachsen. Dass das nun fast zwei Jahre nicht passiert ist, wird uns unterschiedlich stark nachhängen. Es gibt viele Kinder und Familien, die das gut gemeistert haben. Aber es gibt ausreichend Kinder, die eben keine so einfachen Voraussetzungen haben, und denen fehlt ganz viel. Die müssen das jetzt jahrelang mühsam nachholen.

Schulen und Kitas sind offen. Allerdings sitzen jetzt viele Kinder und Jugendliche in Quarantäne zuhause.

Das ist eine politische Maßnahme, die ich in dieser Härte nicht verstehe. Wenn ein Kind Kontakt zu einer positiv getesteten Person hat, kann es doch mit den Eltern raus in den Wald gehen! Wen soll es da anstecken? Wir leben in Baden-Württemberg, hier gibt es genug Grün und Platz. Man muss ja nicht mit dem Kind einkaufen oder auf den Spielplatz und natürlich sollte man insbesondere den Kontakt zu den Großeltern und gefährdeten Personen nicht aufnehmen. Aber, an die frische Luft? Ich bitte Sie.

Das könnte Sie auch interessieren

Im Moment stecken sich auch viele Kinder und Jugendliche an. Manche Familien isolieren ihre infizierten Kinder.

Ich kann das nicht für gutheißen und würde es selbst nicht machen. Ich kann es auch nicht nachvollziehen. In entsprechend beengten Wohnverhältnissen ist dies sowieso nicht durchführbar. Man kann doch trotzdem ein Familienleben aufrechterhalten und dann muss man eben das Risiko eingehen, dass sich alle anstecken, was sie wahrscheinlich sowieso mit Omikron tun. Der beste Schutz ist impfen und boostern! Aber wenn Kinder Fieber haben, gehören sie ins Bett, aber wenn sie kein Fieber haben und sich wohlfühlen, dann macht man eben Spiele miteinander oder legt mal eine kleine Lernphase ein. Schwierig ist dann vor allem die Frage, wer das Kind betreut, das belastet die Familien sehr stark!

Was brauchen Kinder und junge Menschen jetzt? Haben Sie einen Tipp für Eltern?

Gute Frage. Der Wunsch nach Sicherheit vor einer Infektion ist nach wie vor bei vielen da, ich kann das nachvollziehen. Aber wir haben jetzt Masken, Impfungen, Booster und ich kann nur raten: Lassen Sie sich impfen und Ihre Kinder auch! Bei Kindern verlaufen die Infektionen mit Omikron eher mild. Eltern sollten deshalb einen gesunden Blick dafür behalten, was Kinder brauchen. Die Familie ist etwas ganz Wichtiges, aber Kinder brauchen soziale Außenkontakte und man sollte sie da nicht schon wieder eingrenzen. Wenn Kinder und Jugendliche Spaß an einem Sport haben, auch in der Halle, dann sollte man das nicht wieder komplett runterfahren. Gerade die jungen Kinder müssen reinwachsen in das soziale Miteinander und auch die Jugendlichen brauchen Kontakte zum Ausgleich.

Das könnte Sie auch interessieren