Derzeit laufen polizeiliche Ermittlungen gegen den Medizin Campus Bodensee (MCB) in Friedrichshafen. Wie der SÜDKURIER erfahren hat, stehen harte Vorwürfe im Raum, die derzeit allerdings noch geprüft werden müssen. Konkret geht es allem Anschein nach um Todesfälle am MCB. Zudem hat ein anonymer Hinweisgeber Anzeige beim LKA gegen das Klinikum erstattet, diese Anzeige liegt unserer Redaktion vor. Darin geht es um den Verdacht, dass es in der Kardiologie des Hauses aus wirtschaftlichen Gründen zu einer enormen Leistungsausweitung gekommen sein soll – ohne dass die Einrichtung in jedem Fall Behandlungskomplikationen beherrschen kann.
Klinik wiegelt ab
Was sagen Vertreter des MCB dazu? Angefragt zur Sache heißt es: „Das Klinikum hat bislang weder von einer Anzeige noch von Ermittlungen Kenntnis.“ Gleichwohl verweist das MCB auf die Auseinandersetzung mit einer ehemaligen Leitenden Oberärztin der Internistischen Intensivstation. Diese habe seit einigen Monaten Vorwürfe gegen einen Chefarzt sowie gegen Assistenzärztinnen erhoben, wie das Klinikum auf Anfrage bestätigt. Konkret soll es dabei um den Einsatz und die Tätigkeit von aus ihrer Sicht fachlich ungeeigneten Kolleginnen auf der internistischen Intensivstation sowie und aus ihrer Sicht übermäßig belastende Dienstpläne gegangen sein. Auch räumt das Klinikum ein, dass die Frau eine potenzielle Gefährdung des Patientenwohls gesehen hat. Weitere Vorwürfe weist dar MCB mit Verweis auf ein Gutachten von sich.
Ende November hat die Sache eine traurige Wendung genommen. Die Oberärztin, die im Zentrum des Geschehens stand, lebt nicht mehr. Sie hat den Freitod gewählt. Vor dem tragischen Ereignis hatte der SÜDKURIER allerdings die Gelegenheit zum Austausch mit der Frau – und zu weiteren Recherchen nach dem Vorfall. Im Ergebnis wird deutlich: In Teilen der Belegschaft ist man ganz anderer Auffassung als die Klinikleitung in Bezug auf die Vorkommnisse und die im Raum stehenden Vorwürfe. Es rumort schon länger unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.
Erste Warnung im Dezember 2021
Die verstorbene ehemalige Internistische Oberärztin der Intensivstation warnte schon im Dezember 2021 ihren Chefarzt. Per E-Mail wies sie auf die mangelnde Kompetenz von Assistenzärzten hin. Diese waren und sind teils noch immer auf der Intensivstation beschäftigt. Die Meldung an ihren Chef liegt der Redaktion vor. Darin heißt es: „Nach 4 Wochen Einarbeitungszeit sind die Kollegen völlig hilflos in ihren Solo-Schichten und sie, sowie die Patienten, überleben nur mit Dauerpräsenz erfahrener Kollegen.“ An anderer Stelle heißt es in der E-Mail: „Ich will jetzt nicht unsachlich sein, aber das ‚Mäusekino‘, das nächstes Jahr die Ärztliche Behandlungsqualität der internistischen Intensivstation prägen wird, macht mir Angst. Und nicht nur mir...“ Bereits wenige Zeit später, im März 2022, soll der schlimmste Fall eingetreten sein: Ein Assistenzarzt soll den Tod eines Patienten fahrlässig herbeigeführt haben.
Arbeitsweise am Klinikum
Um zu nachzuvollziehen, welchen Missstand die Ärztin konkret angeprangert hat, hilft es zu verstehen, wie eine Intensivstation organisiert ist. Während nächtlicher Schichten und teils am Wochenende gibt es zwei Ärzte auf Station: Einen Internisten und einen Anästhesisten. Der eine kümmert sich um Probleme der inneren Organe, des Stoffwechsels sowie des Blutkreislaufs und ist auf die blutbildenden Organe spezialisiert. Der andere ist Notfallmediziner mit Fokus auf Polytraumatisierte, Patienten mit Lungenversagen sowie zuständig für Personen, die eine Operation hinter sich haben. Die Ärzte sind jeweils für ihre eigenen Patienten zuständig. Das bedeutet: Es gibt regelmäßig Zeiten, in denen Internistische Assistenzärzte alleine die Verantwortung für ihre Patienten tragen. Braucht der Assistenzarzt fachliche Hilfe, wendet er sich an Anästhesisten oder an den „Hintergrund“. Das ist ein Oberarzt in Rufbereitschaft. Zudem auf Station ist Pflegepersonal, allerdings mit begrenzter Entscheidungskompetenz.
Zurück zu den Vorkommnissen im März 2022: In jener Nacht hatte die Oberärztin, die vor den Assistenzärzten gewarnt hat, selbst Rufbereitschaft. Im Interview schilderte sie später dem SÜDKURIER, dass sie während des Vorfalls von einer Kollegin angerufen worden sei – und infolgedessen ins Klinikum eilte. Vor Ort soll die betreffende Kollegin aus dem Zimmer geeilt sein und geschrien haben: „Ich habe ihn umgebracht, ich habe ihn umgebracht!“ Später stellte die Oberärztin laut eigener Aussage fest, dass tatsächlich ein Behandlungsfehler vorgelegen hat.
Schweigen auferlegt?
Wie die Klinikleitung damals auf die Sache reagiert haben soll, ist in einer E-Mail vom Mai 2023 zu lesen. Diese schickte die Oberärztin an den Personalchef des Klinikums. Darin schildert sie, sie habe den brisanten Fall unter hohem Leidensdruck innerhalb der Klinik transparent gemacht. Unter dem Verweis, dass jegliche Rechtsfolge in diesem Falle zu ihre Lasten ginge, sei ihr Schweigen auferlegt worden.
Zwischen März 2022 und heute soll es zu weiteren gravierenden Zwischenfällen – allem Anschein nach teils mit Todesfolge – auf der Intensivstation gekommen sein. Schilderungen zu diesen und ähnlichen Fällen liegen dem SÜDKURIER vor und wurden an Eides statt versichert.
Mehrfach schriftliche Warnungen
Besonders pikant an der Sache ist, dass die Klinikleitung seitens der Beschäftigten mehrfach auf die mangelnde Kompetenz der Assistenzärzte hingewiesen worden ist. Mehrfach wurden schriftliche Warnungen von der Oberärztin sowie auch einer Kollegin in Bezug auf die Assistenzärzte verfasst – und mindestens eine Pflegerin hat ebenfalls auf die Gefährdung des Patientenwohls hingewiesen. Entsprechende E-Mails liegen dem SÜDKURIER vor.
Mehr Personal konnte und sollte wohl trotz der kritisierten Missstände nicht eingesetzt werden. „Eine rein doppelte Besetzung können wir uns personaltechnisch ‚nicht leisten‘ und ist auch aufgrund der aktuellen Belegungszahlen sicher nicht sinnvoll“, schreibt der betreffende Chefarzt in einer E-Mail im April 2023 an die Oberärztin.
Zweifel an Gutachten
Das Klinikum verweist auf ein Gutachten, das unter anderem drei Zwischenfälle mit Patienten beleuchtet und – wie von der Oberärztin in einer E-Mail an ihren Anwalt prognostiziert – sie selbst mitverantwortlich macht für die Zwischenfälle. Der Verfasser des Gutachtens kommt etwa zum Schluss, dass es vielmehr Unfähigkeit und Überforderung der Oberärztin gewesen sein sollen, die zu Missständen geführt haben. Interessant ist hierbei, dass der Chefarzt mit dem Autor des Gutachtens gemeinsam für wissenschaftliche Publikationen verantwortlich war. Gutachter und Chefarzt kennen sich demnach. Weiter heißt es im Gutachten, das dem SÜDKURIER vorliegt, über die Assistenzärzte: „Die eingesetzten Mitarbeiter waren zeitlich als auch inhaltlich für den Einsatz auf der Intensivstation vorbereitet.“
Dieser Einschätzung widersprechen Aussagen von Mitarbeitern. Über die Assistenzärzte sagte eine Person exemplarisch: „Nix gegen die persönlich, aber… die waren und sind kaum dienstfähig für die Intensivstation.“ In Bezug auf die Oberärztin loben alle, mit denen der SÜDKURIER gesprochen hat, die Kompetenzen der Frau. Eine Pflegekraft führte aus, sie sei „eine der kompetentesten Ärzte, mit denen ich je arbeiten durfte. Wenn sie kam, wusste man: Man ist safe, es passiert nichts, sie hat‘s im Griff.“
Auch Klinik sah Qualitäten der Ärztin
Auch die Klinikleitung muss die Fähigkeiten der kritischen Oberärztin hoch geschätzt haben. So hoch, dass sie zur leitenden Oberärztin der Zentralen Notaufnahme befördert worden ist. Damit war die Oberärztin allerdings nicht einverstanden und klagte gegen die Versetzung, wie der Anwalt, der die Interessen der Frau vertritt, gegenüber dem SÜDKURIER bestätigte.
Für Mitte des Monats war der Start eines juristischen Schlagabtauschs am Arbeitsgericht geplant. Im Kern ging es um die Frage, ob die Versetzung der Ärztin rechtens gewesen wäre. Da hatte auch der Betriebsrat erhebliche Zweifel, unterstützte die Oberärztin und widersprach der Versetzung. Zudem befürchtete die Arbeitnehmervertretung, dass der Oberärztin sogar fristlos gekündigt werden könnte. Auch in diesem Fall hätte der Betriebsrat Widerspruch eingelegt.
Dieser Prozess vor dem Arbeitsgericht wird aber nicht mehr geführt.
Wegbegleiter und Kollegen können nur über die genauen Gründe für den Freitod der Oberärztin mutmaßen. Einen Hinweis geben allerdings die Zeilen, die sie am 17. September 2023 an ihren damaligen Anwalt verfasste: „Ich bin langjährige Notärztin und Intensivmedizinerin und robust, aber die Ereignisse der letzten zwei Jahre haben mich traumatisiert. Ich bin nicht mehr die, die ich mal war. Dass ich jetzt so kalt gestellt werde, weil ich diese gravierenden Missstände nach vergeblichen Interventionsversuchen auf dem ‚kleinen Dienstweg‘ benenne und um Abhilfe kämpfe, macht es nicht besser. Ich habe enormen Leidensdruck.“