Kein Platz im großen Saal des Graf-Zeppelin-Hauses war am Sonntagabend frei, als das Stadtorchester Friedrichshafen mit beschwingten Klängen einer Strauß-Overtüre den Jahresempfang 2024 eröffnete. 1700 Gäste, 300 davon im benachbarten Ludwig-Dürr-Saal vor der Leinwand, wollten sich das traditionelle Stelldichein der Häfler Stadtgesellschaft zum Jahresauftakt nicht entgehen lassen. Die meisten von ihnen sind „treue Besucher“, stellte Oberbürgermeister Andreas Brand fest, nachdem nur wenige Erstbesucher auf seine Frage hin die Hand hoben.

Ernstere Töne schlug das Stadtoberhaupt nach der Begrüßung an. Kriege, Migration, Inflation, Klimakrise, wirtschaftlicher Abschwung, Bauernproteste und Lokführerstreik: Es herrsche ein politisches Klima, „das ich so noch nicht erlebt habe“, begann Andreas Brand seine letztlich 45-minütige Ansprache. Zukunft brauche Mut und mehr Vertrauen, werde aber auch Zumutungen abverlangen. Nach welchem Kompass Gemeinderat und Rathaus agieren wollen, welche Schwerpunkte sie setzen, nahm etwa die Hälfte seiner Redezeit ein.
Bilanz in der Stadtpolitik
Friedrichshafen werde bis 2040 klimaneutral sein, sagt Brand, vielleicht auch früher. Mit dem Klimabudget von rund 6 Millionen Euro jährlich sei die Stadt auf einem guten Weg, aber man brauche mehr Geld. Der neue Baumhain auf dem Adenauerplatz, die begrünte Fassade am Technischen Rathaus oder deutliche Verbesserungen im Busverkehr, „ein Quantensprung seit vielen Jahren“, sind für den OB Beleg für die Anstrengungen.
Apropos Verkehr: Mit Raunen und Lachen quittierte das Publikum im Saal die Feststellung Brands, dass es nun mit Tempo 20 durch die Friedrichstraße geht. Kaum ein Thema hatte im vergangenen Jahr für mehr Gesprächsstoff gesorgt als das Ergebnis der Umgestaltung. Das sei „ein Kompromiss und nicht die optimalste Lösung“, räumte er ein.

Friedrichshafen wächst, und damit Herausforderungen wie ausreichend Kitaplätze oder Wohnungen. Rund 3900 von 63.000 Häflern sind derzeit jünger als sechs Jahre. Für 1000 von ihnen gibt es aktuell keinen Platz, obwohl die Stadt in den vergangenen zehn Jahren über 500 neue Plätze geschaffen hat und die Kinderbetreuung den größten Haushaltsposten ausmacht. Der weitere Ausbau sei „eine gewaltige Aufgabe“, so der OB, der auf laufende Planungen für weitere 180 Kita-Plätze verwies. Und das Geld dafür? Die städtischen Finanzen würden „nicht zur Tragödie werden“, erklärte er, auch wenn die Haushalte unter Druck stehen.
OB Brand nimmt Stellung zur Krise am Klinikum
Nicht weniger herausfordernd wird es, die Krise am Klinikum Friedrichshafen zu bewältigen. „Wir klären auf“, war die zentrale Botschaft des Oberbürgermeisters, der Vorsitzender des Aufsichtsrates ist. Der Tod einer Leitenden Oberärztin, die vorher Missstände im Haus angeprangert hatte und fristlos gekündigt werden sollte, habe alle getroffen und betroffen gemacht. Nun brauche es Zeit, um die Sachverhalte mithilfe einer erfahrenen Anwaltskanzlei aufzuklären. „Ich bin überzeugt, das wir das Vertrauen in unser Krankenhaus zurückgewinnen.
In Sachen Migration verwies Brand auf derzeit rund 1250 Geflüchtete in Friedrichshafen, etwa die Hälfte aus der Ukraine. Die Kapazitäten seien in allen Bereichen erschöpft, egal ob bei Wohnungen, Kita- und Schulplätzen oder Integrationskursen. Doch allein Bund und Länder könnten an den Stellschrauben drehen. Wenn der Staat hier nicht handle, brauche man sich über manches Wahlergebnis nicht wundern, so Brand. „Demokratie gelingt nur mit dem Rückhalt vor Ort.“ An der Stelle rührte der OB die Werbetrommel für die Kommunal- und Europawahlen am 9. Juni.

Andreas Brand sprach vom Zusammenhalt der Stadtgesellschaft und rief dazu auf, „den Krisenmodus zu verlassen“: Ziele setzen, Kurs halten, Aufgaben angehen und mutige Entscheidungen treffen. Ein Schlusswort, das die Menschen im Saal mit Applaus bedachten.
Den bekam der Gastredner des Abends in deutlich gelösterer Atmosphäre. Gedächtnisweltmeister Boris Nicolai Konrad verstand es geschickt, dem Publikum in Sachen Merkfähigkeit auf die Sprünge zu helfen. Der Hirnforscher kann sich in einer Minute und 34 Sekunden die Reihenfolge eines gemischten Stapels mit 52 Karten merken. Gabe oder Technik?

Live-Experiment im Saal
Im Live-Experiment demonstrierte Konrad, mit welcher Methode sich eigentlich jeder 20 Begriffe binnen kürzestes Zeit merken kann. Die wurden mit komischen Geschichten an zehn Stellen des Körpers verortet, ein sogenannter Gedächtnispalast. Ohne es anfangs zu wissen, prägten sich die Gäste im Saal ohne Probleme die zehn größten Metropolen Europas ein. An die könne sich jeder auch noch beim Jahresempfang 2025 erinnern, behauptete der Gedächtnissportler. Einzige Voraussetzung: fünf Mal wiederholen. „Wer sechs Wochen lang an jedem Tag 20 Minuten übt, verdreifacht im Schnitt seine Gedächtnisleistung“, sagte Boris Nicolai Konrad, der zum Abschluss nur noch einen Tipp hatte: „Sie haben ein Superhirn. Nutzen Sie es.“