Eine zweite Heimat am Bodensee haben die Waldrappe mit ihrer jüngsten Generation in Heiligenberg gefunden. Bereits 2017 und 2018 hat jeweils ein Schwarm junger Krummschnäbel in Hödingen fliegen gelernt und ist zum herbstlichen Zug in das warme Winterquartier in der Toskana aufgebrochen. Begleitet von ihren Ziehmüttern in Ultraleichtflugzeugen haben die eleganten Gleiter die Alpen überquert.
„Da Tiere der ersten Generation möglicherweise in diesem Jahr schon zurückkehren könnten und im Trainingscamp für Verwirrung sorgen würden, haben wir nun einen anderen Standort gewählt,“ erklärte der Biologe und Projektleiter Johannes Fritz bei der Eröffnung der neuen Projektsaison auf dem Segelfluggelände. Kennengelernt hatte er das Gebiet schon bei Zwischenlandungen während der Trainingsflüge in den vergangenen Jahren.

Ziel des von der Europäischen Union geförderten „Life“-Projekts für Artenvielfalt ist es, den vor nahezu 400 Jahren ausgestorbenen Ibis-Vogel am Bodensee wieder anzusiedeln. Ganz wichtig sei ihm, die Idee und den Sinn dieses Projekts möglichst transparent zu machen.
Viele Besucher kamen auch schon im ersten Jahr
„Die Bevölkerung soll es begleiten, mittragen und so Verantwortung übernehmen“, betont Fritz. Wie gut dies gelingen kann, hat sich in Hödingen gezeigt. „Schon im ersten Jahr haben wir von Juni bis August rund 2400 Besucher gezählt“, sagt Fritz. So viele müssten es in Heiligenberg nicht unbedingt sein, doch seien alle Bürger ab heute täglich zwischen 13 und 17 Uhr eingeladen, um die Tiere kennenzulernen.

„Ich bin völlig überrascht worden von dem Projekt“, sagt Heiligenbergs Bürgermeister Frank Amann, als ihm dies durch eine Anfrage des SÜDKURIER erstmals zu Ohren gekommen sei. „Doch ich freue mich riesig, dass sie hier sind, und bin unheimlich gespannt auf die exotisch wirkenden Tiere“, erklärte Amann bei der Vorstellung des Trainingscamps. Er sei auch froh, dass die Forscher bewusst die Öffentlichkeit eng einbeziehen wollen.
Weltweit sei dies mit Sicherheit eines der schönsten Vogelschutzprojekte überhaupt, betonte Ornithologe Peter Berthold. Ganz entscheidend für die Station am Bodensee seien die späteren Brutfelsen bei Überlingen gewesen, wo der Waldrapp bis zur ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts nachweislich gelebt habe. Wer angesichts des großen Aufwands frage, „lohnt sich das überhaupt?“, dem halte er entgegen: „Wie viele Millionen geben wir aus für Panzer, die nicht fahren, und Flugzeuge, die nicht fliegen?“ Umso erfreuter sei er über die positive Resonanz der Bevölkerung. Dem Bürgermeister empfahl Berthold schon jetzt, den Waldrapp doch ins Wappen aufzunehmen.
Aus dem Kärntener Tierpark Rosegg sind die 32 jungen Waldrappküken vor zehn Tagen in der Voliere ihres Trainingscamps beim Heiligenberger Segelflugplatz eingetroffen. Noch dauert es einige Wochen bis zu den ersten echten Flugübungen. „Bis jetzt sind 23 Jungtiere flügge geworden“, erzählt Ziehmutter Helena Wehner beim Pressetermin.
„Obelix“ habe sich ein Herz gefasst und sei vom Brett vor der Nisthöhle im Wagen erstmals heruntergesegelt. Mit Anne-Gabriela Schmalstieg wird Wehner im August erstmals die diesjährigen Jungtiere begleiten. Derzeit sitzt sie noch in der Voliere, streichelt ihre Schützlinge und spricht mit ihnen, damit sie später auf ihre Kommandos hören. Erstmals werden separat davon vier weitere Küken aus dem Züricher Zoo aufgepäppelt, die von einer anderen Zuchtlinie abstammen und andere Tests mitmachen werden.
Die 32 Österreicher wurden schon kurz nach der Geburt erstmals mit dem Geräusch der Fluggeräte konfrontiert, denen sie später folgen sollen. Mit dem optischen Eindruck werden sich die Waldrappe demnächst sukzessive vertraut machen können. Erst nach einigen Tagen packen die Forscher den bunten Gleitschirm aus, an dem der Schwarm zu erkennen sein wird.
Die dritte Generation
Die jungen Waldrappe sind eben erst flügge geworden und noch in der Voliere. Einige Wochen wird es dauern, bis sie zu den ersten Flugübungen aufbrechen können. Doch dann geht es ganz schnell. Schon Mitte August werden sich die Tiere als dritte Generation vom Bodensee auf den gut tausend Kilometer langen Weg ins Winterquartier machen – über den Arlberg und den Reschenpass nach Südtirol und in die Toskana. Da alle mit Sendern ausgestattet sind, konnten die Wissenschaftler jetzt feststellen, dass Tiere der Generation 2017 schon in Richtung Norden aufgebrochen waren und sich vor Kurzem in der Region Turin aufhielten. Da es möglich ist, dass sie dieses Jahr noch an ihren ersten Abflugsort zurückkehren werden, ist Projektleiter Johannes Fritz nach Heiligenberg ausgewichen. „Die Rückkehrer kommen punktgenau zurück und könnten für Verwirrung stiften“, erklärt Fritz den Umzug. Im nächsten Jahr werden die ersten Tiere von 2017 geschlechtsreif sein und sollen an den Molassefelsen beim Wasserwerk Überlingen ihren ersten Nachwuchs selbst großziehen.