Frau Apranjyan, wie haben Sie Weihnachten gefeiert, als Sie noch in Aleppo wohnten?
Ganz wichtig: Am Mittag ging es in die Kirche.
Und wie sieht es da aus? Ähnlich wie hier?
Zu Weihnachten wird in unseren Kirchen eine Krippe aufgebaut. So eine Krippe hat jede Gemeinde in ihrer Kirche. Es gibt ja in Syrien verschiedene christliche Gemeinden. Die Christen dort kommen ja aus ganz unterschiedlichen Richtungen, katholisch, griechisch-orthodox, armenisch, melkitisch und so weiter. Aber alle bauen eine Krippe auf. Und zwischen den Kirchengemeinden gibt es einen Wettstreit. Wer von ihnen hat die schönste Krippe. Das ist auch ein Grund, weshalb wir zu Weihnachten nicht immer in die selbe Kirche gehen. Wir besuchen in jedem Jahr eine andere Kirche, um uns dort die Krippe anzuschauen.
Und wie sind die Krippen gestaltet?
Das Jesuskind liegt da, Maria und Josef sind daneben, auch die drei Könige, die Hirten, der Esel, der Ochse, Lämmer, Schafe.
Nein, ich meine den Stil, wie der Stall, seine Umgebung aussehen. Ist das eine orientalische Situation?
Alles ist ganz einfach, einfaches Mauerwerk. Die Gebäude sehen wie in einer Stadt aus, ganz so wie in Bethlehem.
Woraus sind die Figuren hergestellt?
Das ist ganz unterschiedlich. Manche wurden aus Holz geschnitzt. Manche sind aus Pappe oder Papier.
Wie sieht es bei den Familien daheim aus. Stellen die bei sich zu Hause auch Krippen auf?
Oh ja. Zu Hause steht nicht nur die Krippe. Es gibt auch einen Weihnachtsbaum.
Wird dort auch beschert?
Beschert?
Bekommen dort die Kinder ihre Geschenke? Und beschenken sich dort auch die Erwachsenen?
Aber ja.
Kennen die christlichen Kinder in Syrien auch den Weihnachtsmann?
Natürlich. Aber sie kennen keinen Santa Claus. Jedenfalls kennen sie nicht den Santa Claus aus der Coca-Cola-Welt.
Sieht der syrische Weihnachtmann so aus wie unser Weihnachtsmann hier?
Genau so, rotes Gewand und weißer Bart. Was alles ein Onkel anhat, der den Weihnachtsmann spielen muss.
Wie lange glauben denn die Kinder in Syrien an den Weihnachtsmann? Ab wann erkennen sie ihren Onkel?
Das ist verschieden. Mit drei, mit vier oder fünf Jahren glauben sie noch ganz fest: Da steht der Weihnachtsmann! So ab sieben Jahren hört das dann langsam auf. Da kann der Onkel seine Stimme noch so verstellen.
Welche Rolle spielt der syrische Weihnachtsmann? Ist er nur streng oder ist er auch gütig?
Eigentlich ist er gütig. Das Druckmittel sind die Geschenke. Die Eltern sagen, wenn ihr nicht brav seid, schreiben wir eure Wünsche nicht auf den Zettel für den Weihnachtsmann. Meistens hilft das.
Also sind in Syrien die Eltern streng?
So allgemein kann man das nicht sagen. Aber die Jugendlichen haben schon weniger Freiheiten als hier. Erst in der jüngeren Generation ändert sich das langsam. Die Zeiten wandeln sich. Doch es ist noch nicht so wie hier, wo die Kinder oft ihre eigenen Erfahrungen machen sollen. Ich denke, nicht jede schlechte Erfahrung ist sinnvoll. Vieles braucht man nicht. Vieles sollte besser vermieden werden. Kinder müssen nicht erst alles ausprobieren.
Zum Beispiel den Griff auf die Herdplatte?
(Lacht) Zum Beispiel den Griff auf die heiße Herdplatte!
Feiern die syrischen Christen ihr Weihnachtsfest auch im engeren Familienkreis, wie das bei uns oft der Fall ist?
Nein, bei uns hat dann das Zusammensein der ganzen Familie eine große Bedeutung. Je mehr da sind, umso besser, umso schöner ist das Fest.
Wie viele kommen?
Das hängt natürlich von der Größe der Familie ab. Aber 30 bis 50 Angehörige sind es bei den meisten.
Und wo treffen die sich?
Man kommt ins Haus des Familienoberhaupts. Wenigstens, wenn das den nötigen Platz hat.
Wie ist das in Ihrer Familie? Ist die groß?
In Syrien waren wir noch sehr viele. Bei meiner Hochzeit (lacht), bei meiner Hochzeit waren wir rund 500. Viele davon leben heute nicht mehr in Syrien. Viele sind geflohen, leben verstreut in der ganzen Welt, auf allen Kontinenten. Wir haben überall Verwandte, in Kanada, in der Schweiz, in den Niederlanden, in Belgien, Australien.
Haben Sie da noch Kontakt?
Mit „Whatsapp“ ist das möglich. Mit „Whatsapp“ erfahren wir, wie es jemandem geht.
Und wie läuft dann so eine Familienfeier ab an Weihnachten?
Wir unterhalten uns. Wir essen. Und wir tanzen.
Sie tanzen zum Weihnachtsfest?
Natürlich! Das gehört immer dazu. Es wird ja auch Musik gespielt.
Welche Art von Musik?
Vor allem arabische Musik, zu der alle tanzen können, alle Generationen.
Gibt es auch Weihnachtslieder?
Ja, ziemlich zum Schluss, bevor die Kinder ihre Geschenke bekommen. Dann singen wir die bekannten Weihnachtslieder, zum Beispiel „Stille Nacht“.
Wie spät ist es dann ungefähr?
Ziemlich spät, so gegen elf Uhr, 23 Uhr am Abend.
Nach der Bescherung geht es dann wieder in die Kirche?
Nein, wir waren ja schon am Mittag da. Nachdem die Kinder ihre Geschenke haben und alles ausgepackt haben, geht die Feier weiter, mit Essen, mit Trinken, mit Unterhalten.
Auch mit Tanzen?
Auch mit Tanzen. Je nach Familie, je nach Temperament geht das Feiern weiter bis tief in die Nacht, bis zwei, drei oder vier Uhr. Oft bleibt dann aber nur die Jugend.
Wie sieht denn eine Silvesterfeier in einer durchschnittlichen syrischen Familie aus? Feiert die überhaupt Silvester?
Oh ja. Und eigentlich geht es genau so zu, wie zu Weihnachten.
Genau so?
Na ja, zum Jahreswechsel begegnet der Weihnachtsmann auf den Straßen. In die Familien kommt er dann nicht mehr. Die feiern wieder mit Essen, mit Sich-Unterhalten, mit Tanzen, wieder zu 50. Das geht bis zwölf. Dann geht es auf die Straße.
Vermissen Sie diese gemeinsame Fröhlichkeit in großer Runde?
Ja sehr. Hier in Deutschland ist alles sehr viel stiller, gerade zu Weihnachten. Es ist anders. Aber unsere vielen Bekannten hier, vor allem der ehemalige Vikar Sebastian Feuerstein, besonders auch unsere Patenfamilie, die Leute vom Freundeskreis Flucht und Asyl haben uns sehr, sehr geholfen, damit wir zurecht kommen. Ihnen allen gilt unser großer Dank.
Und fühlen Sie sich wohl hier?
Heute ist Markdorf unsere neue zweite Heimat.