Seit Beginn der Corona-Pandemie hätten die Anfragen von Eltern, die sich für das Thema Freilernen und eine Bildungsbegleitung für ihre Kinder interessieren, deutlich zugenommen, berichtet die studierte Grund- und Hauptschullehrerin Karen Kern: „Ab September bekamen wir wöchentlich bis zu zehn Anfragen.“ Aber bereits in den vergangenen Jahren habe sie ein zunehmendes Interesse am Lernen außerhalb des regulären Schulsystems festgestellt, sagt sie.
Aktueller Online-Unterricht in manchen Fällen der Anstoß
Die Gründe für den Anstieg in den vergangenen Monaten seien ganz unterschiedlich. Manche Eltern hätten schon länger mit dem Gedanken gespielt, ihre Kinder nicht mehr in die Schule zu schicken. „Da der Online-Unterricht nicht überall gut funktioniert, war das für manche der Auslöser“, berichtet Kern.
Anderen gefalle es nicht, wie die Lehrer via Internet mit ihren Kindern umgehen, sagt sie über Kollegen ihres Berufsstandes. Wenn dann die Kinder selbst nicht mehr zur Schule gehen wollen, sei das die Motivation. „Nicht selten gibt es auch Schüler, die in der Sekundarstufe vor dem Abschluss stehen, sich nicht gut vorbereitet fühlen und nach Alternativen suchen“, so die 57-Jährige, die lange Jahre im Vorstand der deutschlandweit agierenden Freilerner Solidargemeinschaft war. Nur vereinzelt sei bislang der Auslöser für den Anruf der Eltern die aktuelle Maskenpflicht in der Schule gewesen.
Selbstbestimmtes Lernen nicht gleich Home-Schooling
Keinesfalls sei Home-Schooling, bei dem der Lehrer den Lernstoff lediglich auf einem anderen Kanal präsentiere, mit dem selbstbestimmten Lernen zu Hause zu vergleichen: „Im Schulsystem geht es nach wie vor darum, auf fertige Fragen fertige Antworten zu finden“, sagt Kern, die aktuell 36 Schüler betreut, die sich vom System verabschiedet hätten. Sie wollten selbst etwas herauszufinden, experimentieren oder gemeinsam mit anderen Lösungen auf ihre Fragen finden.
Der Weg, sich als Freilerner auf eigene Faust Bildung anzueignen, sei sicher nicht für alle Familien gleich gut geeignet, sagt die Mutter von fünf erwachsenen Kindern. Ihre Kinder sind zum Teil selbst jahrelang nicht zur Schule gegangen, stünden aber heute mit beiden Beinen im Leben, sagt Kern.
Kern sagt: Freilerner-Eltern werden kriminalisiert
Für ein paar Jahre hat Familie Kern in Großbritannien gelebt, um der Schulpflicht zu entgehen. „Mir geht es vielmehr darum, dass auch dieser Weg eine Option ist, ohne dass Eltern gleich pathologisiert oder kriminalisiert werden“, betont Kern. Leider sei dies in Deutschland aktuell der Fall und die Bußgelder in Verbindung mit Anwaltskosten könnten in die Tausende gehen. Für bildungsferne Familien hält Kern das Konzept des Freilernens für weniger gut geeignet. „Aber ich verstehe nicht, warum die Behörden alle Familien über einen Kamm scheren.“
Rektor Andreas Geiger: „Schulpflicht sorgt für gleiche Bildungschancen“
Andreas Geiger, Rektor der Jakob-Gretser-Schule in Markdorf, hat vor allem die Kinder im Blick, die von ihren Eltern bei der Umsetzung ihres „Rechts auf Bildung“ nicht unterstützt werden oder werden können.

Das aktuelle Home-Schooling zeige die gegensätzlichen Pole: Bei manchen Schülern funktioniere es sehr gut, andere würden im Extremfall hinten runter fallen. „Um allen Kindern die gleichen Bildungschancen zu geben, gibt es die Schulpflicht“, betont Geiger. Und die sei nun mal mit einer allgemeingültigen und verbindlichen Gesetzgebung verbunden, die dem Schutz der Kinder diene. „Es gibt sicher Eltern, die die Bildungsarbeit zu Hause leisten können. Aber auch sie müssen sich an die Regeln halten“, so der klare Standpunkt des Markdorfer Rektors.
Die rechtliche Lage
Karen Kern: „Jeder Mensch ist anders und lernt anders“
Wesentlich ist für Karen Kern hingegen, dass junge Menschen ihre eigenen Interessen verfolgen können – auch wenn diese zunächst wenig mit dem schulischen Bildungsverständnis zu tun haben. „Wir vertrauen darauf, dass jeder Mensch sich bilden und auch einen Beruf ergreifen will.“

Ihrer Erfahrung nach bräuchten die meisten Kinder und Jugendlichen für ihre Bildung nicht unbedingt schulischen Unterricht, sondern vor allem andere Menschen, die sie begleiten, ihre Fragen beantworten oder ihnen beim Finden von Informationen und Materialien helfen. „Dabei gibt es kein Patentrezept. Jeder Mensch ist anders und lernt anders“, so Kern. Schätzungsweise 2000 bis 3000 Freilerner gebe es ihren Informationen zufolge aktuell in Deutschland.
Ihre Betreuung sei kein Ersatz für den Schulbesuch
Ihre Arbeit sieht die Grund- und Hauptschullehrerin als eine Art Übersetzungsdienst für die Eltern auf der einen und Schule, Schulamt sowie Behörden auf der anderen Seite. Wichtig ist ihr der Hinweis, dass ihre Bildungsbetreuung für Freilerner kein Ersatz für Home-Schooling oder den Schulbesuch ist. „Ich betreue vielmehr beim selbstbestimmten und selbstorganisierten Lernen“, erläutert sie.
Außerdem schreibe sie Stellungnahmen an die Behörden, die zeigen sollen, dass die Kinder zu Hause und unabhängig vom regulären Schulbetrieb tatsächlich lernen. Kern geht jedoch davon aus, dass etwa 50 Prozent der aktuellen Freilerner nach der Corona-Pandemie wieder zurück ins Schulsystem gehen werden.