Als die Polizei sie aufgriff, waren sie mit T-Shirt und kurzer Hose bekleidet. Sonst hatten sie nichts. Vier Jungs im Alter von 15, 14, neun und sieben Jahren. Sie waren barfuß, als ihr Schlepperbus auf der Autobahn gestoppt wurde. Das war Anfang November 2022.

Jetzt sitzen die vier Brüder am Tisch der Familie Mattes in einem Teilort von Salem am Bodensee und essen Kässpätzle mit Salat. Familie Mattes, das waren bislang: Margit und Michael Mattes, vier Kinder, zwei davon ausgezogen, die pflegebedürftige Oma, zwei Hunde, zwei Katzen, vier Pferde. Seit dem 27. Dezember sind sie vier Personen mehr.

Margit und Michael Mattes.
Margit und Michael Mattes. | Bild: Hilser, Stefan

Warum wir ihren Namen nicht nennen

Die vier Jungs stammen aus einem Land in Westafrika. Ihr Vormund bestimmte, dass der genaue Herkunftsort und ihre Namen nicht bekannt werden dürften, auch nicht ihr Aussehen. Sie stehen unter der Obhut des Bodenseekreises, wo sie, nach Ankunft in Deutschland, erstmals den Behörden aufgefallen waren. Es geht darum, den Jungs einen guten Start in eine neue Zukunft zu ermöglichen, ohne, dass sie von ihrer Vergangenheit eingeholt werden.

Familie Mattes hilft ihnen dabei. „Es war eh schon immer alles viel“, sagt Margit Mattes, womit sie mit ironischem Unterton sagen will, dass vier Jungs mehr oder weniger nicht besonders ins Gewicht fielen.

„Das ist ein Novum, dass eine Familie vier Geschwister auf einmal aufnimmt.“Barbara Roth
„Das ist ein Novum, dass eine Familie vier Geschwister auf einmal aufnimmt.“Barbara Roth | Bild: Arkade e. V.

Unterstützung von Arkade und Jugendamt

Familie Mattes wird unterstütz vom Verein Arkade, einem Träger der freien Jugendhilfe, der sich um unbegleitete minderjährige Ausländer, sogenannte Umas, kümmert. Barbara Roth arbeitet bei der Arkade. Sie sagt: „Das ist ein Novum, dass eine Familie vier Geschwister auf einmal aufnimmt.“

Neue Tischgemeinschaft: Aus vier wurden acht Kinder, die sich bei Familie Mattes am Tisch versammeln.
Neue Tischgemeinschaft: Aus vier wurden acht Kinder, die sich bei Familie Mattes am Tisch versammeln. | Bild: Familie Mattes

In Libyen auf ein Schlepperboot gesetzt

Über die Geschichte der vier Jungs ist bislang wenig bekannt. Die jüngeren erinnern sich nicht, wie ihre Mutter aussieht. Ihr Onkel habe sie nach Libyen gebracht. Wie lange sie dort mit ihm unter einem Dach wohnten, wissen sie nicht. Plötzlich seien Unbekannte in das Haus eingedrungen und ihr Onkel sei fortan verschwunden gewesen. Ein Freund ihres Onkels habe sie einem Schlepper übergeben, der sie mit weiteren etwa 60 Menschen in ein Boot setzte, das sie übers Mittelmeer vor Lampedusa brachte. Dort seien sie von der Seenotrettung aufgefangen worden. Ein weiterer Schlepper habe sie dann nach Deutschland gebracht. Nachdem ihr Bus von der Polizei gestoppt wurde, kamen sie anfänglich ins Heim Linzgau in Überlingen-Deisendorf.

Familie geht keine dauerhaften Verpflichtungen ein

Barbara Roth vom Verein Arkade hat ein gutes Gefühl. „Die Jungs wollen hier ankommen, sie wollen in die Schule, sie wollen lernen. Sie fühlen sich wahrgenommen, das sieht man.“ Über Familie Mattes sagt sie: „Sie sind absolut offen und bereit, sich auf Neues einzulassen – nach dem Motto: Einfach mal starten und schauen, wo es hinführt.“

Gemeinsam wird im Haushalt angepackt, gelacht und getrommelt. Ihr Vormund hat bestimmt, dass die Identität der jungen Leute nicht ...
Gemeinsam wird im Haushalt angepackt, gelacht und getrommelt. Ihr Vormund hat bestimmt, dass die Identität der jungen Leute nicht preisgegeben werden darf. | Bild: Hilser, Stefan

Die Welt im eigenen Haus

Michael Mattes ist 57 Jahre alt, er gehört zum Leitungsteam der Camphill-Schulgemeinschaft in Brachenreuthe. Er ist Heilerziehungspfleger. Als das Jugendamt nach einer Gastfamilie suchte, frage er: „Kennen wir niemanden, der so ein Setting hat?“ Mit Setting ist im Jargon der Fachleute ein geeigneter Ort gemeint. „Bis uns klar wurde: Eigentlich sind wir die, die so ein Setting haben.“

Vor einem halben Jahr habe er noch davon geträumt, einen Camper zu kaufen und um die Welt zu reisen. Nun holten er und seine Frau die Welt zu sich nach Hause in ihr Dorf bei Salem. Sie hätten nicht lange nachdenken müssen, sagen Margit und Michael Mattes. Ihre 14 und 17 Jahre alten Kinder, die noch zu Hause leben, hätten sie zu nichts überredet, sondern hätten bei ihnen die gleiche Offenheit gespürt und den gleichen Impuls zu sagen: Ja, das probieren wir.

„Bei uns ist ein bisschen Pipi Langstrumpf. Da fällt das wahrscheinlich gar nicht so auf.“
Margit Mattes

Auch Margit Mattes, sie ist 53, arbeitet in der Heilerziehungspflege in Brachenreuthe. Zudem hat sie eine Reihe weiterer Berufe. Sie ist Kauffrau, Reittherapeutin, sie führte früher einen Partyservice, aktuell absolviert sie eine Ausbildung in hawaiianischer Körperarbeit. „Wir gehen mit dem Pferd zum Einkaufen“, erzählt sie. „Bei uns ist ein bisschen Pippi Langstrumpf. Da fällt das wahrscheinlich gar nicht so auf.“ Die Integration ihrer Mutter vor vier Jahren – „sie ist dement und stur“ – sei die wohl größere Aufgabe gewesen.

Trommeln und Tanzen Video: Hilser, Stefan

Die Kässpätzle schmecken gut. Bei Sauerkraut hätten sie neulich abgewunken. „Sie vermissen Maniok“, stellt Margit Mattes fest. Momentan unterhalten sie sich noch auf Englisch, mit einem kreolischen Einschlag, den die 53-Jährige gut versteht, sie verbrachte eine Zeit ihres Lebens in der Karibik. Erste Brocken auf Deutsch sind aber auch schon herauszuhören.

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„Alles“, sagen sie auf die Frage, was ihnen gut schmeckt. „Lesen und Schreiben“ auf die Frage nach ihrer Lieblingsbeschäftigung. „Guten Abend“, sagen sie höflich, und „Bitte“, wenn sie aufspringen, den Teller abtragen und mit dem Spülen beginnen. „Seit sie da sind, durfte ich nicht mehr Spülen“, sagt Michael Mattes. Seine Frau ergänzt: „Sie begleiten mich in den Reitunterricht.“ Den Reitschülern gegenüber seien sie „unfassbar sozial“. Beim Fußballspielen im Dorf lernten sie schon andere Kinder kennen.

Viele kleine Fragen im Alltag

Ihr Alltag ist momentan noch davon bestimmt, Abläufe abzustimmen. Warum darf man Hähnchen mit den Händen essen, Schupfnudeln aber nicht? Warum pinkelt man im Sitzen? Und wann geht wer in welches Badezimmer, damit morgens alle rechtzeitig den Schulbus erreichen?

Andeutungen aus grausamen Kindheitstagen

Über ihr bisheriges Leben können die Jungs nicht viel erzählen. Es fehlt an Papieren, an Erinnerungen oder auch an Worten. Doch aus Andeutungen und Beobachtungen lesen Margit und Michael Mattes einiges heraus. Unter anderem, dass sie Mord und Hunger erlebten. Und dass sie von Klein auf hart arbeiten mussten. Der Siebenjährige, der rund 30 Kilo wiegt, trage mühelos einen 18 Kilo schweren Strohballen auf dem Kopf. Ihr Hunger sei nach Ankunft kaum zu bändigen gewesen. Sie hätten nur bei Licht schlafen können, und hätten um ihren Onkel geweint, der bis dahin die einzige Bezugsperson gewesen sei.

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Sie leben nun gut vier Wochen unter einem Dach. Es wird gelacht und sich in den Arm genommen. Es wird getrommelt und getanzt. Die Jungs trauen sich mittlerweile, alleine die dunkle Kellertreppe hinabzusteigen. Das Licht im Schlafzimmer, wo sie zu viert nächtigen, darf gelöscht werden. Und sogar ihre demente Mutter liebe die Jungs, sagt Margit Mattes – „und sie lieben ihre Omama“.

Von „Selbstaufgabe“ oder derartigen Begriffen fühlten sie sich sehr weit weg, sagt Margit Mattes. Ihre Vokabel laute „Vertrauen“. Ins Leben und das, was Neues auf sie zukommt. „Was wir den Jungs Gutes tun, geben sie uns an Gutem zurück.“