Christopher Rieck

„Ich kann mich noch genau erinnern, als die Bomber kamen. Ich stand in Omas Garten und sah die Flugzeuge von Westen her kommend. Unten fielen die Bomben raus und ich rief – sie werfet, sie werfet!“

Alois Stemmer erzählt dem Historiker Oswald Burger vom Kriegsende in Überlingen, das er als Elfjähriger erlebte. „Meine Oma zog mich dann in den Felsenkeller hinter ihrem Garten, dort waren auch schon mehrere andere Menschen.“ Der einzige Luftangriff auf die Stadt erfolgte Ende Februar 1945, zwei Monate später marschierten die Franzosen in der Stadt ein.

Am Montag, 25. April, ist es genau 77 Jahre her, dass die französische Armee Überlingen besetzte und der Krieg damit in der Stadt sein Ende fand. 14 Tage vor der endgültigen Kapitulation Deutschlands.

Bomben auf den Westbahnhof

Der Luftangriff, an den sich Alois Stemmer so deutlich erinnert, fand exakt am 22. Februar 1945 statt. Lange wurde davon ausgegangen, dass er den geheimen, im Aufbau befindlichen Stollenanlagen gegolten hätte. Hier wurden Rüstungsproduktionen vorbereitet, welche den Ausfall der zerbombten Friedrichshafener Fabriken kompensieren sollten.

Alois Stemmer, Siegfried Kuebler und Oswald Burger (von links) betrachten den von Siegfried Kuebler gezeichneten Grundriss der ...
Alois Stemmer, Siegfried Kuebler und Oswald Burger (von links) betrachten den von Siegfried Kuebler gezeichneten Grundriss der Überlinger Stollenanlage. | Bild: Chris Rieck

„Die Annahme war ein Irrtum“, klärt Historiker Oswald Burger auf: „Tatsächlich war es eine konzertierte Aktion.“ Unter dem Codenamen „Clarion“, auf deutsch „Kriegstrompete“, waren am 22. und 23. Februar 1945 sämtlichen einsatzbereiten Flugzeuge der in England, Frankreich, Holland, Italien und Belgien stationierten alliierten Luftstreitkräfte aufgestiegen, insgesamt etwa 9000 Bomber, Jagdbomber, und Jagdflugzeuge, um den Luftkrieg in die letzten Winkel des Deutschen Reiches zu tragen.

Der Luftangriff auf Überlingen am 22. Februar 1945 tötete 20 Menschen und zerstörte zahlreiche Gebäude; Sechs Bauten total, 10 schwer ...
Der Luftangriff auf Überlingen am 22. Februar 1945 tötete 20 Menschen und zerstörte zahlreiche Gebäude; Sechs Bauten total, 10 schwer beschädigt, 7 mittelschwer, 38 leicht. 100 Personen wurden obdachlos. | Bild: Foto Lauterwasser, Überlingen

„Innerhalb eines Tages wurden in der Region zahlreiche Bahnhöfe bombardiert, um den Rückzug der Wehrmacht zu behindern.“ Und Burger beschreibt weiter, dass die Stollenanlage – indirekt – wohl schon etwas mit dem Zielgebiet zu tun hatten. Dort gab es eine Schmalspurbahn, mit dem der Abraum abtransportiert wurde. „Im Bereich um die Stollenanlage waren mehrere Geleise verlegt, die man als dem nahen Bahnhof zugehörig betrachtete. Der Angriff kostete 20 Menschen das Leben.“

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Kindheit im Krieg in der Gartenstraße

Alois Stemmer, Jahrgang 1934, lebt seit Langem in Burgstall an der Murr. Zwei bis dreimal im Jahr zieht es den Heimweh-Überlinger allerdings zurück in die Stadt seiner Kindheit. Die prägenden Jahre verbrachte er im Haus seiner Großmutter in der Gartenstraße. Die Mutter arbeitete als Lazarettschwester in Polen, der Vater war im Krieg und würde erst 1947 zurückkehren. Eine Kindheit mindestens ohne Vater – eine Normalität in dieser Generation.

Alois Stemmer (links) als Kind während der Kriegszeit mit Spielkameraden im Garten seiner Großmutter in der Gartenstraße
Alois Stemmer (links) als Kind während der Kriegszeit mit Spielkameraden im Garten seiner Großmutter in der Gartenstraße | Bild: Privat, Alois Stemmer

Als Zehnjähriger zu Fuß durchs brennende Friedrichshafen

Der beobachtete Bombenangriff in Überlingen war nicht das erste Erlebnis dieser Art. Im Jahr zuvor, am 28. April 1944, war Friedrichshafen bombardiert worden. Vom Pfänder aus beobachtete der damals Zehnjährige mit seiner sich auf Urlaub befindlichen Mutter das Geschehen aus der Ferne. Die Rückfahrt des Zuges nach Überlingen stoppte bereits in Eriskirch, eine Durchfahrt durch Friedrichshafen war wegen der zerstörten Gleise nicht mehr möglich. Zu Fuß durchquerten Mutter und Sohn die teils brennende Stadt. Weinende Ordensschwestern in den Trümmern der Stadt sind eines der Bilder, die sich bis heute bei ihm eingebrannt haben.

2022 in Überlingen: Alois Stemmer zeigt Oswald Burger das „Flohkämmerle“ im Gebäude der Kunstakademie, ehemalige Turnhalle der Seeschulen. Hier fand die Indoktrination durch die Nazis statt. „Als Zehnjähriger musste ich zu den Pimpfen, der Vorstufe der HJ“, erklärt Alois Stemmer. Im „Flohkämmerle bekamen wir Unterricht, im Hof mussten wir antreten und das Schleifen – Exerzieren – fand dann auf der Wiese statt, auf der heute der Minigolfplatz ist.“

Die dort erlebte Ausgrenzung und Demütigungen sind ihm in deutlicher Erinnerung und führten dazu, dass er dem ideologischen Unterricht häufig fernblieb. „Meine Mutter musste deswegen sogar zur Kreisleitung der Partei“, berichtet er.

Das Haus „Zur Löwenzunft“ fiel wenige Tage nach dem Einmarsch der Franzosen, am 2. Mai, einem Großbrand zum Opfer. Vor 1933 ...
Das Haus „Zur Löwenzunft“ fiel wenige Tage nach dem Einmarsch der Franzosen, am 2. Mai, einem Großbrand zum Opfer. Vor 1933 war hier die Sparkasse untergebracht, nachdem die Nationalsozialisten die Macht übernommen hatten, wurde der historische Bau an der Hofstatt Sitz der NSDAP-Kreisleitung. Nach dem Einmarsch der Franzosen waren hier sämtliche Waffen und Munitionsbestände gelagert gewesen, die die Franzosen in der Stadt beschlagnahmt hatten. | Bild: Archiv Lauterwasser

Als Kind tauchte er nach in den See gekippten Brandresten der Löwenzunft

Kurz nach Kriegsende brannte das Gebäude der Kreisleitung, die Löwenzunft an der Hofstatt, unter letztlich nie geklärten Umständen ab. Zu dieser Zeit wurde das Haus unter anderem als Lager für beschlagnahmte Gegenstände benutzt. Alois Stemmer erinnert sich, dass alles, was im zerstörten Gebäude noch zu finden war, kurzerhand in den See gekippt wurde. Die nach „Schätzen“ tauchenden Überlinger Kinder bargen Radios, Ferngläser und Radioröhren. Eine Signalpistole englischer Bauart hängt noch heute als Fundstück im Hobbykeller von Alois Stemmer, wie er berichtet.

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Zufällige Begegnung mit einem weiteren Zeitzeugen

Auf dem weiteren Weg durch die Stadt, kommt es auf der Promenade zu einer zufälligen Begegnung mit einem weiteren Zeitzeugen: Siegfried Kuebler kann sich noch deutlich an die KZ-Außenstelle erinnern, die ab Herbst 1944 in der Nähe des heutigen Krankenhauses lag. Auf seinen Erinnerungen fußen die Pläne des Lagers, die in Oswald Burgers Buch „Der Stollen“ veröffentlicht sind.

Auch Alois Stemmer hat Erinnerungen an das KZ. „Uns hat man gesagt, da kommen schlechte Menschen hin“, berichtet er. Ein Lager für Verbrecher, „für schlimme Leute“ so stellten es die Nazis dar. Die Häftlinge wurden folglich mit einem Gefühl der Argwohn, teilweise der Angst betrachtet.

„Überlinger wussten über die KZ-Häftlinge Bescheid“

Die Überlinger wussten, was vor sich ging, stellt Alois Stemmer klar: Die KZ-Häftlinge auf dem Weg zu den Stollenarbeiten konnte man schon von Weitem durch das Klackern der Holzpantinen hören. Ein örtlicher Bauer war beauftragt, Leichen der umgekommenen Häftlinge zum Wäldchen „Degenhardt“ zu bringen, wo sie verscharrt wurden. Auch das sei in Überlingen bekannt gewesen.

Nach der Exhumierung der Opfer auf Anordnung der französischen Militärverwaltung, wurden im April 1946 die geborgenen Toten in Särgen auf dem ehemaligen „Adolf-Hitler-Platz“ aufgebahrt, der nach dem Krieg in „Landungsplatz“ umbenannt wurde. Die Gedenkfeier war für alle Überlinger Bürger verpflichtend.

Alois Stemmer: „Als Kind empfindet man alles anders“

Ein Halbsatz des Befehlshabers der französischen Militärverwaltung in Überlingen namens Lindemann, ist Alois Stemmer noch gegenwärtig: „Es waren eure Söhne“, die das verbrochen haben. Auf die Frage, wie er die Situation als junger Mensch wahrgenommen hat, zuckt Alois Stemmer die Schultern: „Als Kind empfindet man alles anders, man war halt dabei. Ich weiß noch, dass meine Oma ängstlich war, dass man da jetzt hin musste.“ Oswald Burger ergänzt: „Andere Menschen, die dabei waren, berichteten, dass ein extremer Gestank von den 97 Leichen in den undichten Holzkisten ausgegangen war.“

Bei der Oma wohnten zwei Zimmerherren der Organisation Todt

„Manche Erinnerungen sind mir noch in allen Einzelheiten deutlich vor Augen, aber andere verschwimmen zu allgemeinen Eindrücken“, beschreibt Stemmer. Zu Letzteren gehört auch ein denkwürdiges Erlebnis, von dem er berichtet. In der Wohnung der Großmutter waren zwei „Zimmerherren“ von der „Organisation Todt“ einquartiert. Diese paramilitärische Organisation im NS-Staat war für kriegsrelevante Bauten, aber auch Luftschutzbunker zuständig.

Sprengmeister Schumi nahm den kleinen Alois mit in den Stollen

Einer der beiden „OT-Männer“, Sprengmeister Schumi, nahm den Zehnjährigen einmal verbotenerweise in den Stollen mit. „Ich kann mich an keine Details erinnern“, berichtet Alois Stemmer, der den Stollen erstmals seit dieser Zeit wieder besucht. „Allerdings sind Eindrücke geblieben: Reges Treiben, Männer in Sträflingskleidung, Hunde, Aufseher, Bohren, Hämmern und ein eigenartiger Geruch – muffig und nach Abgasen.“

In der Stollenanlage erklärt Oswald Burger Alois Stemmer ein von einem Häftling gezeichnetes Lager-Tarockspiel
In der Stollenanlage erklärt Oswald Burger Alois Stemmer ein von einem Häftling gezeichnetes Lager-Tarockspiel | Bild: Chris Rieck

Als das Kriegsende nahte, „verabschiedete sich der Schumi französisch, also verschwand einfach, bevor die Franzosen kamen“, erinnert sich Alois Stemmer schmunzelnd. „Seine braune Uniform und seine Pistole hat er im Blatterngraben zurückgelassen, dort habe ich sie gefunden.“

Eine Panzersperre aus Baumstämmen in der Heldenstraße – die man heute als Münsterstraße kennt.
Eine Panzersperre aus Baumstämmen in der Heldenstraße – die man heute als Münsterstraße kennt. | Bild: Archiv Lauterwasser

Während des Einmarsches versteckte sich der Elfjährige im Felsenkeller

Am 25. April 1945 spielte der elfjährige Alois Stemmer am Kinderkreis in der Grabenstraße, als er Schüsse hörte. Sofort rannte er wieder in den Felsenkeller beim Garten der Großmutter, wenige Schritte entfernt. Die einrückenden Franzosen trafen derweil auf die Verteidiger unter Oberstleutnant Wellenkamp, die das Feuer eröffneten.

Die französischen Panzer schossen drei Häuser in Brand und konnten den Widerstand schnell brechen. Die Panzer rollten durch Überlingen. Noch zweimal fielen Schüsse, dann fand der Krieg in Überlingen, knapp zwei Wochen vor der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reichs, sein Ende.