Das Foto von der in Flammen stehenden Universität in Charkiw ging um die Welt. Es zeigt die Zerstörung durch einen russischen Raketenangriff. Anna arbeitete hier. Sie ist Universitätsprofessorin. „Ich weiß nicht, warum sie das machen“, sagt die 32-Jährige und legt ihr Handy auf die Seite, auf dem sie ein Video von dem Bombenangriff gespeichert hat.

Wir berichten über Anna, Sonja und Ekaterina, ohne dass wir ihren vollen Namen nennen. Denn sie haben Angst davor, dass Feinde ihren Mann, ihren Papa, ihren Schwiegersohn in der Ukraine ausfindig machen könnten, und ihm etwas zustößt. Wenn man sich vergegenwärtig, was sie in den vergangenen Wochen durchmachten, und welchen Horror sie vor Augen haben, dann ist diese Angst nachvollziehbar.
Anna berichtet davon, dass nur 200 Meter von ihrem Wohnblock entfernt – in Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine – ein Gebäude bombardiert wurde. Da entschieden sie sich zur Flucht, mit nicht mehr als dem, was sie am Leib trugen. Sie, das sind: Die 32-jährige Universitätsprofessorin Anna, ihre Mutter Ekaterina (58), die als Ingenieurin in einem Konstruktionsbüro arbeitete, und ihre Tochter Sonja (5), die in Charkiw einen Kindergarten besuchte. Sie flohen zu einer Freundin an den Bodensee.
„Mein Land benötigt das Geld jetzt für den Krieg.“Anna, die ihre Vorlesungen fortan online und ohne Lohn von Überlingen aus hält

Ihre Freundin in Überlingen, das ist die 58-jährige Marina Müller. Sie und ihr Mann sind 2014 aus Donezk geflohen, als nach Angriffen pro-russischer Separatisten die kleine Firma, die sie hatten, zerstört wurde. So berichtet es Marina Müller, und dass sie nach Kiew geflüchtet seien, dort aber keine Unterstützung erhalten hätten, und dann vor zweieinhalb Jahren weiter nach Deutschland reisten. Ihr Opa war Deutscher, sie sind Spätaussiedler. Sie lernte schnell gut Deutsch zu sprechen, nun leistet Marina Müller in diesem Krieg Dolmetscherdienste.
„Das war der schwerste Teil der Reise.“Anna über den Abschied von ihrem Mann
Die Bombardierung ihrer Stadt ließ ihnen keine Wahl als zu flüchten. „It was hard, but we have no choice“, sagte Anna. „Es war schwer, aber wir hatten keine andere Wahl.“ Mit dem Auto flohen sie aus Charkiw nach Poltava. Für die 120 Kilometer benötigte die Familie zwölf Stunden, lange Staus führten aus der Stadt heraus, sie schliefen bei Kälte im Auto, in Poltava erreichten sie den Bahnhof. „Das war der schwerste Teil der Reise“, sagt Anna über den Moment, an dem sie sich von ihrem Mann und Sonja von ihrem Papa verabschieden musste. „Es flossen viele Tränen.“
Ihr Mann ist IT-Spezialist, er arbeitet als Web-Entwickler. Wenn es Internet gibt, arbeitet er weiter in seinem Beruf. Anna sagte: „Wir sehen, dass den Deutschen unser Schicksal nicht egal ist. Das ist für uns eine moralische Unterstützung.“ In den ersten Tage nach ihrer Ankunft lebten sie in Marina Müllers Wohnung in Überlingen, zu fünft auf 40 Quadratmetern. Es war gut, an einen sicheren Ort zu kommen, wo ihnen die Menschen auf der Straße ein Lächeln schenken.
Zugfahrt im Schutz der Nacht
Bahnhof Poltava: Nach der Trennung von ihrem Mann, ihrem Papa, ihrem Schwiegersohn, stiegen Anna, Sonja und Ekaterina in einen überfüllten Zug. Der Zug fuhr nachts, die Lichter mussten ausgeschaltet und die Vorhänge zugezogen werden, berichtete Ekaterina. „So haben sie aus dem Flugzeug den Zug nicht gesehen.“
Die Flucht dauerte drei Tage, über Warschau ging es weiter nach Berlin. Im Gedränge des Zugs, in den die Leute auch ihre Haustiere mitnahmen, ging Annas Brille kaputt. In Überlingen reparierte sie ein Optiker. Als Anna darüber berichtete, dass er das kostenlos machte, huscht ein Lächeln über ihr Gesicht, das sonst von Traurigkeit gezeichnet ist.
Marina Müller und Ekaterina kennen sich aus Studienzeiten. Die Beziehung nach Deutschland ist ihr Glück im Unglück, Überlingen ist ein erster Ankerplatz. Marina Müller und ihr Chef, Martin Kasperzyk, der eine Internetseite aufbaute und hier die Vermittlung von Wohnungen für Flüchtlinge organisiert, halfen bei der Suche nach einer eigenen Wohnung.

Jemand stellte ihnen eine Ferienwohnung zur Verfügung. Ihr Vermieter will nicht einmal eine Miete haben, zur Begrüßung bescherte er ihnen sogar einen gefüllten Kühlschrank. Hier haben sie es gut, wenn die Vokabel gut in Zusammenhang mit ihrer Flucht aus einer zerbombten Stadt verwendet werden darf.
Ankunft in einem sicheren Hafen, und dann?
Was benötigen die geflüchteten Frauen und Kinder jetzt, nachdem sie einen sicheren Ort erreichten? Im Gespräch fallen die Stichworte Kindergartenplatz, Handyvertrag, Arbeit, Bankkonto, Behördengänge, Ablenkung, Kontakte, Begegnungen, Gesprächsmöglichkeiten, ein Lächeln. Vieles davon hätten sie schon bekommen, dank ihrer Freundschaft zu Marina Müller klappte manches, wofür sie sehr sehr dankbar sind.
Als Sonja am 17. März ihren fünften Geburtstag feierte, bekam sie viele Geschenke. „Die Kleine war sehr glücklich“, sagte Marina. „Gott sei Dank verstehen die Kinder noch nicht so richtig.“
Heile Welt in einem Spiel mit der kleinen Tochter
In Charkiw besuchte Sonja einen Kindergarten, bis die Bomben fielen. Anna berichtete, wie sie hier in Überlingen mit ihrer Tochter ein virtuelles Telefonat führte. Da nahmen alle Freundinnen des Mädchens nacheinander den Hörer ab. „Steht dein Haus noch?“ „Ja, mein Haus steht noch.“ Ein Kinderspiel. Laut diesem Telefonat wurden keine Häuser vernichtet, es geht ihren kleinen Freundinnen demnach gut. Doch wer will seinen Kindern in so einer Situation die Wahrheit sagen?
Anna wünscht sich für ihre Tochter einen Kindergartenplatz, damit Tanja wieder unter Gleichaltrigen sein kann. Sie selbst und die Oma des Kindes möchten wieder zum Arbeiten gehen, da wäre es gut, wenn sie Sonja in einer Betreuung wüssten. In Überlingen sind die Kindergärten überfüllt. Es gab schon vor dem Krieg eine Warteliste.
„Gott sei Dank verstehen die Kinder noch nicht so richtig.“Marina Müller, über die Unbeschwertheit eines Kindes
Ekaterina würde gerne dem Vorbild ihrer Freundin Marina folgen und sich hier eine Existenz aufbauen. Sie würde gerne eine Arbeit als Putzkraft oder in einer Küche annehmen. „Ich möchte hier in Deutschland eine Perspektive, Überlingen ist schön“, sagte sie. Dagegen möchte Anna sobald wie möglich zurück in die Ukraine. „Mein Land aufbauen.“
Anna hat mittlerweile in einem Hotel in Uhldingen-Mühlhofen eine Arbeit bekommen. Jetzt bringt ihr noch jemand bei, wie man Fahrrad fährt. Sie möchte auch wieder Vorlesungen halten. Gute Menschen in Überlingen haben ihr einen Computer besorgt, so dass sie ihre Studenten in der Ukraine online erreichen kann, sofern es Internet gibt. „Internationale Beziehungen“ ist ihr Fachgebiet! Es handelt sich um eine staatliche Universität, mit Lohn rechnet sie nicht, sie würde ehrenamtlich arbeiten. „Mein Land benötigt das Geld jetzt für den Krieg.“