Er möchte an diesem Vormittag einen guten Eindruck machen. Deshalb trägt er Mantel, Hemd und Lederstiefel. Er spricht ruhig und bedächtig. Seine Schuld gesteht er ein und hat Tränen in den Augen. Denn innerlich fühlt er sich wie ein Wrack: „Mir geht es scheiße“, sagt der 26-Jährige im Amtsgericht Überlingen. Angeklagt ist er eigentlich wegen Körperverletzung. Im gleichen Prozess verhandeln Amtsgericht und Staatsanwaltschaft aber auch Fälle von Sachbeschädigung und Beleidigung, die ihm zur Last gelegt werden. Seine Strafakte beginnt aber noch früher.
Alkohol, Depression und Selbstverletzung
Der Mann ist in schwierigen familiären Verhältnissen aufgewachsen und war in der Vergangenheit mehrfach inhaftiert. Er hat eine Ausbildung abgebrochen, ist verschuldet und lebt von Arbeitslosengeld, erzählt er. Seinen Sohn habe er seit fast einem Jahr nicht gesehen, dessen Mutter blockiere wohl jeglichen Kontakt. Das belaste ihn sehr und sorge für depressive Phasen, sagt er. Er trinke etwa eine Flasche Schnaps am Tag, manchmal auch „bis zum geht nicht mehr“, sagt er. „Das hilft dabei, dass ich alle Sorgen vergesse.“ Er sagt: „Ich bin in einem Loch, aus dem ich alleine nicht rauskomme.“ In der Vergangenheit habe er sich Verletzungen zugefügt und zeigt seinen Unterarm. In Kürze wolle er sich daher in psychiatrische Behandlung begeben.
Im Frühjahr 2023 soll er einen Mann in der Überlinger Innenstadt nach einer Auseinandersetzung auf die Brust und in den Hals geschlagen haben. Außerdem soll er im Sommer die Tür eines befreundeten Paares eingetreten sowie nachts an einer Tankstelle einen Mann beleidigt haben. Strafverteidiger Franz Dichgans erklärt, dass der Alkohol dafür sorge, dass der Angeklagte immer wieder gewalttätig werde.
Richter zweifelt an Opferrolle
Amtsrichter Alexander von Kennel kennt den Angeklagten. Erst im April 2023 hat er ihn in einem Prozess zur einer Bewährungsstrafe verurteilt. Abgeschreckt hat dieses Urteil wohl nicht: Kurze Zeit später soll er die Delikte begangen haben, für die er jetzt auf der Anklagebank sitzt.
Der Amtsrichter hört sich die Worte des Angeklagten geduldig an, lässt sich aber nicht auf seine Opfererzählung ein. Er verweist auf die lange Liste der Straftaten, auf versäumte Termine der Bewährungshilfe, auf eine beim Prozess im Frühjahr angeordnete aber nicht begonnene Psychotherapie. Dass für alles nur die Mutter seines Sohnes verantwortlich sei, will er nicht akzeptieren. „Sie müssen auch ein Stück weit vor der eigenen Tür kehren.“
„Lassen Sie die Füße glühen“
Da der Angeklagte die Taten gesteht und Reue zeigt, werden keine Zeugen mehr geladen. Es bleibt aber die juristische Frage: War er bei den Straftaten schuldunfähig oder vermindert schuldfähig? Eine Antwort soll nun ein psychiatrisches Gutachten geben. Stehen die Straftaten im Zusammenhang mit einer Suchterkrankung, kommt die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt in Betracht. Der Prozess wird daher pausiert und soll in einigen Wochen wieder aufgenommen werden, wenn das Gutachten vorliegt.
Bevor Amtsrichter von Kennel die Verhandlung beendet, wendet er sich aber noch eindringlich an den Angeklagten. Er sagt: „Seien Sie erreichbar und gehen Sie zur Bewährungshilfe.“ Der Angeklagte nickt. „Und lassen Sie die Füße glühen und gehen sie zu einem Therapeuten!“ Der Angeklagte nickt wieder. „Ich sehe ja die schwierige Situation, doch Sie müssen die vielen Hilfsangebote auch annehmen“, so der Richter. „Denn sonst sind Sie im Knast!“