Noch einige Wochen, dann startet in Überlingen die seit mehreren hundert Jahren erste von Waldrappen aufgezogene Waldrapp-Generation zum Flug über die Alpen. Ziel wird das Winterquartier in der Laguna di Orbetello in der Toskana sein, ein WWF-Schutzgebiet. Um die Jungtiere bei dieser Reise begleiten zu können, wurden sie jetzt von Anne-Gabriela Schmalstieg und Corinna Esterer besendert. Schmalstieg und Esterer sind den Überlingern in ihrer früheren Funktion als Ziehmütter während der Handaufzuchten bekannt.
Sieben Jungvögel in drei Nestern
Insgesamt sieben Jungvögel zogen die Waldrappe in drei Nestern in der Brutwand nahe Goldbach auf. Während in den Tagen vor dem Besendern „Professor“ fehlte, der nach Ornithologe Peter Berthold benannte und älteste Waldrapp der Generation, gilt inzwischen das Weibchen „Pfaefers“ als vermisst. Anne-Gabriela Schmalstieg suchte an den Lieblings- und Schlafplätzen der Vögel, aber Pfaefers tauchte nicht auf – dafür Professor. Er war mit seinen Eltern in den Schwarzen Graben bei Weildorf geflogen und dann dort geblieben. „Die Waldrappe machen das, was wir wollen. Mit jemandem mitfliegen, der den Weg kennt“, sagt die ehemalige Ziehmutter. Für den Weg über die Alpen ist dies unabdingbar. Doch nicht nur Elterntiere erweisen sich als gute Leittiere, auch die Zwei- und Dreijährigen, die bereits probeweise in die Region zurückkommen, aber noch nicht zum Brüten bereit sind.
Das Wiederansiedlungsprojekt „Grund zur Hoffnung“
Die GPS-Peilsender können sich dabei als echte Lebensretter für die Waldrappe erweisen. „Wir können viel an den GPS-Daten ablesen“, berichtet Schmalstieg. Zeigt sich ein „komisches Bewegungsmuster“, ist davon auszugehen, dass es dem Vogel eventuell nicht gut geht. Die Mitglieder des Waldrappteams oder Freiwillige, die über die Schweiz und Italien verteilt sind, machen sich dann auf die Suche und kümmern sich. Es kommt zum Beispiel vor, dass Waldrappe sich den Schnabel brechen, „ein sensibles Tastinstrument“, so Schmalstieg. Ihn brauchen sie für die Futtersuche im Erdreich. Ohne funktionsfähigen Schnabel benötigen sie Hilfe.

Erwartungen für die Kolonie voll erfüllt
Die Erwartungen des Waldrappteams für die Kolonie in Überlingen wurden in diesem Jahr – abgesehen von der coronabedingt nach Österreich verlegten Handaufzucht – voll erfüllt. „Wir haben mit drei bis vier Nestern gerechnet und sechs bis sieben Jungtiere erwartet“, erklärt Anne-Gabriela Schmalsieg. Waldrapp-Pärchen können üblicherweise für zwei bis drei Küken sorgen. Intuitiv hätten sie bei der Aufzucht alles wichtig gemacht, die Vögel. Sich etwa beim Brüten immer wieder abgewechselt.
Anfang Oktober Abflug ins Winterquartier
Anne-Gabriela Schmalstieg vermutet, dass die Waldrappe Anfang Oktober ins Winterquartier starten. Es seien auch viele sogenannte Subadulte dabei, so Schmalstieg. Das sind die Jungvögel vorangegangener Handaufzuchten, erwachsene Tiere bezeichnet man als adult. Gelegentlich helfen die Teammitglieder, wenn ein Waldrapp keinen Anschluss an die jeweilige Kolonie findet. „Normalerweise finden die sich auch selbst“, sagt die einstige Ziehmutter. Mogli, drei Jahre alt, hat die anderen Waldrappe aber beispielsweise immer verfehlt. Das Jungtier landete am alten Standort in Hödingen, fand die anderen in Überlingen allerdings nicht. So fing Schmalstieg den Waldrapp ein und brachte ihn zur Brutwand – neben Neufrach, Weildorf, Heiligenberg und der Reutemühle der zentrale Punkt in diesem Jahr.
Erst 2022 Brut in natürlichen Felsnischen
Auf das Übersiedeln in die natürlichen Strukturen in der Felswand hatte das Waldrappteam verzichtet. „Wir haben den Transfer in die Nischen abgesagt. Waldrappe sind Koloniebrüter“, erläutert Anne-Gabriela Schmalstieg. Doch die jüngsten Küken waren aufgrund der zeitlichen Abstände der Nester zu jung und die ältesten zu alt. Voraussichtlich werden also erst 2022 die ersten Waldrappe in den natürlichen Felsnischen brüten. „Ich bin optimistisch, dass im nächsten Jahr nochmals einer draufgesetzt wird“, so Schmalstieg. Sie wird mit ihrem Partner sogar in die Region übersiedeln, beide haben hier Arbeit gefunden. Inwiefern sie sich weiter um die Kolonie kümmern wird, ist noch in Planung.
In den nächsten Monaten wird sich herausstellen, ob es 2022 wieder eine Handaufzucht und menschengeführte Migration vom Bodensee aus geben wird. Das hängt unter anderem mit der Corona-Pandemie zusammen, und wie gut sich die Teammitglieder dann über Landesgrenzen hinweg bewegen können. Der Waldrapp-Saison in Überlingen hat die Verlegung der Handaufzucht 2021 aber keinen Abbruch getan. „31 Waldrappe waren im Brutgebiet, mit den Jungvögeln“, sagt Anne-Gabriela Schmalstieg. Die Brutwand ist mittlerweile verlassen. „Nachdem Spruzi, der jüngste Waldrapp, flügge geworden ist, haben die Waldrappe die Brutwand ziemlich schnell verlassen.“ Tendenziell halten sie sich jetzt nur noch in der Region auf, bevor sie den Flug über die Alpen wagen.