Wenn es nach der Applausdauer ginge, könnte Jan Zeitler seine Wiederwahl feiern. Ginge es nach der Lautstärke und dem meisten Zwischenapplaus, hätte Martin Hahn bei der Kandidatenvorstellung im Überlinger Kursaal den Sieg davongetragen. Doch so einfach ist das natürlich nicht.

Die sechs Bewerber für den Posten des Oberbürgermeisters folgen einem strengen Protokoll, unter den wachsamen Augen von Baubürgermeister Thomas Kölschbach und Manfred Schlenker (Vorsitzender des Gemeindewahlausschusses). Als Beobachter sitzen die beiden in der Mitte der Bühne. Ein bisschen erinnert es an den Jurytisch einer Castingshow, und warum nicht – die Überlinger sind schließlich auf der Suche nach ihrem Hauptrepräsentanten. Für die Bewerber steht am rechten Rand der Bühne ein Rednerpult bereit, dahinter das Banner der Stadt. Hier werden die Kandidaten sprechen.

Das Publikum im voll besetzten Kursaal. Selbst an den Scheiben lehnen interessierte Zuhörer, die innen keinen Platz mehr gefunden haben.
Das Publikum im voll besetzten Kursaal. Selbst an den Scheiben lehnen interessierte Zuhörer, die innen keinen Platz mehr gefunden haben. | Bild: Hilser, Stefan

Das Interesse an ihnen ist groß. Der Saal ist voll bis auf den letzten Platz und darüber hinaus. Im Foyer stehen die Menschen. Sogar draußen lehnen sie an den Fensterscheiben und hören den Rednern zu. Von mehr als 700 Menschen ist die Rede. Die vielen Gespräche verbinden sich zu einem Stimmengewirr. Als Kölschbach das einleitende Wort ergreift, verstummen die Gespräche und Stille kehrt ein. Die Kandidaten treten in der Reihenfolge auf, in der sie ihre Wahlunterlagen eingeworfen haben. Jeder hat zehn Minuten Zeit, sich und sein Programm vorzustellen.

Jan Zeitler

Amtsinhaber Jan Zeitler ist der Erste. Er lächelt, schüttelt die Hände der Zeitwächter Kölschbach und Schlenker, legt raschelnd seine aufgeschriebene Rede bereit und richtet seine Worte an die Bürger Überlingens und seiner Ortsteile. Die Uhr läuft. „Ich freue mich, mich Ihnen wieder vorstellen zu dürfen“, beginnt der Verwaltungswissenschaftler. „Mein Ziel war es immer, mich hauptamtlich auf kommunaler Ebene einzubringen.“ Deshalb will der 54-Jährige dort weitermachen, wo er steht und setzt auf Kontinuität. 15 Jahre Erfahrung im hauptamtlichen kommunalen Wahlamt bringe er mit, als Rathauschef von Horb und Überlingen.

„Ich spüre das Vertrauen der Überlinger Bürger“, Jan Zeitler, Amtsinhaber und OB-Kandidat.
„Ich spüre das Vertrauen der Überlinger Bürger“, Jan Zeitler, Amtsinhaber und OB-Kandidat. | Bild: Hilser, Stefan

„Ich stehe für ein Überlingen, in dem Werte gemeinsam gelebt werden.“ Gemeinwohl als zentralen Orientierungsrahmen will er. „Ich will keine Leitbilddiskussion, sondern einen Handlungsraum“, sagt er. Gemeint sind damit: Krisenfestigkeit für soziale, wirtschaftliche und ökologische Herausforderungen. Nur wenige Sekunden überzieht er. „Ich spüre das Vertrauen der Überlinger Bürger“, sagt Zeitler. Und die Bürger spenden 30 Sekunden Beifall. Keiner der nachfolgenden Bewerber erhält mehr.

Martin Hahn

Auch nicht der Landtagsabgeordnete Martin Hahn. Gemütlich geht er durch die Publikumsreihen nach vorn. Auch Hahn richtet seine Begrüßung an Überlingen und seine Ortsteile, er vervollständigt aber um die Höfe und Weiler – obendrein im Dialekt. Dafür erntet er prompt Applaus. 26 Jahre sei er als Landwirt tätig und seit 2004 im Kreistag des Bodenseekreises. „Seit über 30 Jahren bin ich in und um Überlingen engagiert“, sagt der 60-jährige Landwirtschaftsmeister.

„Das Amt, für das ich kandidiere, hat keine Farbe“, sagt Hahn, der im Landtag für die Grünen sitzt, als OB-Bewerber aber unabhängig kandidiert. Denn seine Aufgabe sei das Gemeinwohl. Auch deshalb hebt er die Arbeit der Ehrenamtlichen hervor. „Ihr seid der Anker und die Seele unserer Stadt“, nennt er sie und erntet wieder Zwischenbeifall.

„Das Amt, für das ich kandidiere, hat keine Farbe“, Martin Hahn, OB-Kandidat.
„Das Amt, für das ich kandidiere, hat keine Farbe“, Martin Hahn, OB-Kandidat. | Bild: Hilser, Stefan

Eine sichere und bezahlbare Wärmeversorgung will er den Überlingern bieten, die öffentlichen Verkehrsmittel ausbauen und alt und jung zusammenführen. Ein zentraler Begegnungsort für Jugendliche soll in der Nähe des ZOB entstehen, denn: „Die Jugend sollte in der Mitte unserer Stadt zuhause sein.“ Wieder Applaus. Zustimmung, nickende Köpfe. Da verzeiht das Publikum auch seinen Versprecher, als er „überbordende Demokratie“ verhindern will, sich aber schnell auf „Bürokratie“ korrigiert. Sein Schlussapplaus dauert knapp 25 Sekunden. Doch er ist voluminöser und lauter als bei seinem Vorredner.

Dennis Michels

Dennis Michels tritt als Dritter auf die Bühne. Beigefarbenes Sakko, Einstecktuch. „Man hört mich“, bemerkt er mit Mikrofon in der Hand. Er spricht frei, sucht nicht den Schutz des Pultes. Er stellt sich den Blicken der prüfenden Menge. Doch die Rechnung, frei zu sprechen, geht nicht ganz auf. Er strauchelt sprachlich an der einen oder anderen Stelle, verhaspelt sich. Immer wieder der Blick zur Uhr, unklar, ob sie zu viel oder zu wenig Zeit zeigt. Der 46-Jährige wuchs in Hannover auf und absolvierte in München seine Friseur-Ausbildung. Nun sei er stolz, vor den Überlingern Bürgern auf der Bühne zu stehen.

„Seit 30 Jahren höre er als Frisör Schicksale und Geschichten“, Dennis Michels, OB-Kandidat.
„Seit 30 Jahren höre er als Frisör Schicksale und Geschichten“, Dennis Michels, OB-Kandidat. | Bild: Hilser, Stefan

Als Unternehmer kenne er Bürokratie. Er will sie „verschmälern“, wie er sagt. „Seit 30 Jahren höre ich als Frisör Schicksale und Geschichten.“ Deshalb sei er nah am Menschen. Damit lenkt er zu den 244 städtischen Vereinen, die ehrenamtlich organisiert sind und fordert Applaus für ihr Engagement, „auch wenn das von meiner Redezeit abgeht“. Die Jugend sei wichtig, der Einzelhandel, die Ortsteile will er mehr verbinden, Kunst und Kultur fördern. Eine Brücke zwischen alt und neu, Jung und Alt will er sein. In dieser Weise improvisiert Michels weiter, bis er nach zehn Minuten mit den Worten „Und nun ist vorbei“ die Bühne verlässt. 19 Sekunden hält sein Beifall.

Olaf Wübbe

Olaf Wübbe präsentiert sich nach der freien Rede wieder hinter dem Rednerpult. Er dankt für das Interesse an seiner Person und stellt sich umfassend vor. 57 Jahre alt, verheiratet, zwei Töchter, Bankkaufmann, Zeitsoldat, Rechtswissenschaftsstudium, fasst der heute als Rechtsanwalt tätige Bewerber seine Biografie zusammen. „Ich musste mir mein Studium selber finanzieren“, trägt Wübbe vor. Ironisch süffisant „oooooh“ antwortet es aus dem Publikum. Die Ortskenntnis des Schleswig-Holsteiners wirkt mitunter ausbaufähig. Die Jakob-Kessenring-Straße ist mal die Jakob-Kressing- mal die Jakob-Kessing-Straße, zudem verwechselt er Überlingen und Immendingen, wo er Gemeinderat war.

„Es ist wichtig, junge Arbeitskräfte zu bekommen und sie zu halten, dafür ist es nötig, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen“, Olaf Wübbe, ...
„Es ist wichtig, junge Arbeitskräfte zu bekommen und sie zu halten, dafür ist es nötig, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen“, Olaf Wübbe, OB-Kandidat. | Bild: Hilser, Stefan

Er habe hinter der Rezeption der Arztpraxis seiner Frau ausgeholfen. „Ich kann also auch Praxis“, bemüht Wübbe einen Wortwitz. Seine politische Selbsteinschätzung: konservativ. Seine Ziele: „Wohnraum schaffen, um junge Arbeitskräfte zu bekommen und zu halten“, Wirtschaft stabilisieren, um kostenlose Kinderbetreuung einzurichten, kostenloser Shuttleservice von den Außenbezirken in die Innenstadt. Seine Rede quittiert das Publikum mit neun Sekunden Klatschen.

Thomas Hildebrandt

Als Wahlvorschlag Nummer fünf wird der 53-jährige Raumausstatter und Kommunikationselektroniker Thomas Hildebrandt von Kölschbach angekündigt. Mit breitem Lächeln betritt er die Bühne. Kaum richtet er das Wort ans Publikum, fordert ein Zwischenruf, er solle lauter sprechen. In seiner Jugend, als er „flügge“ wurde, wie er sagt, zog er vom Stadtteil Bambergen in den Stadtteil Bonndorf. Wissendes Gelächter, kein Neigschmeckter.

„Wenn es um wegweisende Entscheidungen wie das Ausweisen von Bebauungsplänen und Großbauprojekte geht, wäre eine Bürgerbefragung im ...
„Wenn es um wegweisende Entscheidungen wie das Ausweisen von Bebauungsplänen und Großbauprojekte geht, wäre eine Bürgerbefragung im Vorfeld sinnvoll“, Thomas Hildebrandt, OB-Kandidat. | Bild: Hilser, Stefan

Leicht holprig trägt er seine Pläne vor: Bürgerdialog im Vorfeld „wegweisender Entscheidungen“. Er verweist auf die abgeholzten Platanen und erntet Zwischenapplaus und Buh-Rufe gleichermaßen. Weiter will er den Wohnungsleerstand angehen und eine unkomplizierte Verwaltung. Die Behauptung, der ZOB sei zum Drogenumschlagsplatz geworden, erheitert die Zuhörer. Außerdem: „Kultur und Nachtleben beleben nicht nur die Innenstadt, sie bereichern unser Stadtbild“, sagt Hildebrandt. Schlussapplaus: elf, fast zwölf Sekunden. Nach acht Minuten gibt er die Bühne frei für den letzten Konkurrenten.

Felix Strenger

Doch der letzte Kandidat, der große Unbekannte, kommt nicht. Sollte er bei der offiziellen Kandidatenvorstellung ein Phantom bleiben? Ungeduldige Blicke, Applaus – vielleicht würde er kommen. Minuten verstreichen, ehe der 44-Jährige mit breitem Lächeln in den Saal läuft. Das vorzeitige Ende seines Vorredners habe den Ablauf gestört, erklärt Strenger nach seinem Auftritt im Gespräch mit dem SÜDKURIER.

„Ich will im direkten Umfeld wirken, weg von einem ‚die da oben‘“, Felix Strenger, OB-Kandidat.
„Ich will im direkten Umfeld wirken, weg von einem ‚die da oben‘“, Felix Strenger, OB-Kandidat. | Bild: Hilser, Stefan

Doch zuerst wieder das Übliche: Hände schütteln, rascheln, trinken. Seine Rede weicht dann allerdings doch vom bisherigen Jargon der Veranstaltung ab. Er punktet mit Selbstironie. „Habt ihr überhaupt noch Lust?“, fragt er seine Zuhörer.

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Als Bremer sei er Fan des SV Werder und an der Weser aufgewachsen. Nach dem Maschinenbaustudium sei er dem guten Wetter entgegen nach Stuttgart gezogen. Dort: Familiengründung und Arbeitgeber Bosch, sechs Jahre Station in Italien – vor zwei Jahren schließlich der Umzug nach Überlingen.

Er sei kein Profipolitiker, aber er sei nahbar, empathisch und könne schnell Sachverhalte einschätzen. Bewährt hat sich für ihn „mutig vorgehen, ausprobieren, reflektieren“. Auch er will die Bürokratie abbauen, der jungen Generation bezahlbaren Wohnraum schaffen, die lokale Wirtschaft stärken. Er versteht seine Kandidatur schlicht als Angebot. „Ich will im direkten Umfeld wirken, weg von einem ‚die da oben‘“, sagt er. Am Ende steht bei ihm Transparenz im Mittelpunkt. Er verbucht nach seiner Rede 19 Sekunden Applaus.