Uhldingen-Mühlhofen „Klasse Rede!“ lobte Alois Thoma die Ansprache von Cornelia Kerth, die als Bundesvorsitzende der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten (VVN/BdA) zur diesjährigen Gedenkfeier zum 80. Jahrestag des Kriegsendes auf den KZ-Friedhof Birnau gekommen war. Mit 97 Jahren war der Baienfurter Thoma der älteste von über 100 Teilnehmern und Zeitzeuge des Geschehens vor 80 Jahren. Das Kriegsende 1945 hatte er noch als 16-Jähriger erlebt. Er sollte in Regensburg den Flughafen verteidigen. Schließlich war er froh, gefangen genommen worden und mit dem Leben davongekommen zu sein.
Dieses Glück hatten viele der Zwangsarbeiter nicht, die noch im letzten Kriegsjahr zum Schutz der Rüstungsindustrie riesige Stollen in den Überlinger Molassefels graben mussten. 243 von ihnen kamen infolge der Arbeit zu Tode. An 97 Namen erinnern die Grabplatten auf dem KZ-Friedhof, die mit roten Nelken geschmückt waren.
Bereits am Nachmittag hatte Oswald Burger vom Verein Dokumentationsstätte Goldbacher Stollen bei einer Führung ins Dunkel der Geschichte die Leiden der damaligen Zwangsarbeiter für alle noch einmal greifbar werden lassen. Bei der Gedenkfeier an den Gräbern erinnerte Burger an die Vorkommnisse des Apriltages, an dem die Stadt Überlingen an die Franzosen nahezu kampflos übergeben wurde.
„Morgenröte der Menschheit“
Als Bundespräsident Richard von Weizsäcker vor 40 Jahren den 8. Mai zum „Tag der Befreiung“ erklärt habe, sei die Perspektive der Verfolgten des Naziregimes „gesellschaftsfähig geworden“ sagte Cornelia Kerth am Ende ihrer Ansprache. Nach weiteren 40 Jahren sei es „endlich“ an der Zeit, den 8. Mai zu einem bundesweiten Feiertag zu erklären. Den Tag, den die Überlebenden als „Morgenröte der Menschheit“ erlebt hätten, formulierte sie mit Worten des Widerstandskämpfers Peter Gingold.
Frank Kappenberger, Ravensburger Regionalsekretär des DGB, hatte neben der Hauptrednerin unter anderem zahlreiche Vertreter der Gewerkschaften und Gäste aus Italien begrüßt. Aus dem Land stammen viele der auf dem KZ-Friedhof Begrabenen. Schon zur Tradition der Gedenkfeier gehört es daher auch, das italienische Partisanenlied „Bella Ciao“ gemeinsam zu singen. Auch die musikalische Begleitung hatten die Gäste aus Turin mitgebracht.
„Anders als in Turin oder Paris herrschte damals auf den deutschen Straßen kein Jubel“, sagte Cornelia Kerth in ihrer Gedenkrede: „Deutschland war das Land der Täterinnen und Täter, die besiegt werden mussten, um den ungeheuerlichen Menschheitsverbrechen der Faschisten ein Ende zu setzen.“ Mehr als 55 Millionen Menschen seien dem Naziterror und dem Vernichtungskrieg zum Opfer gefallen. Nur die wenigen Widerstandskämpfer hätten den 8. Mai als Befreiung erlebt.
„Wir alle, die heute leben, verdanken Frieden, Freiheit und Vielfalt den Siegern vom 8. Mai“, erklärte Cornelia Kerth. Die alliierten Streitkräfte, von denen die Rote Armee die größte Last in Europa zu tragen gehabt habe, so Kerth, „bleiben auch unsere Befreier.“ Der deutsche antifaschistische Widerstand sei bis heute „das Wertvollste aus der deutschen Geschichte“.
AfD-Verbot gefordert
Der 80. Jahrestag falle in eine Zeit, in der in ganz Europa „neue Faschistinnen und Faschisten nach der Macht greifen oder sie sogar schon ergriffen haben.“ In Deutschland verfüge „die extreme Rechte“ mit der AfD erstmals seit 1945 flächendeckend über einen parlamentarischen Arm. Ja, in Brandenburg und Thüringen habe sie sogar „machtpolitische Bedeutung“ erreicht. Ziel der AfD sei die Auslöschung der Erinnerung und die „Verklärung der faschistischen Volksgemeinschaft“. Daneben habe neoliberale Politik zu einer sozialen Spaltung der Gesellschaft geführt, die die Bereitschaft zur Ausgrenzung wachsen lasse und Menschen auf der Flucht kriminalisiere. Kerth: „Die AfD muss verboten werden.“ Denn aus der Legalität schöpfe die Partei Legitimität und kassiere Millionen an Steuergeldern.
Als Folge des russischen Angriffskriegs beklagte Cornelia Kerth in Deutschland „Werbefeldzüge für das Töten und Sterben“, die entschiedenen Widerspruch erforderlich machten. Stattdessen fordere die VVN eine Stärkung der Vereinten Nationen und deren Institutionen sowie eine „Rückkehr zur Diplomatie statt Aufrüstung auf allen Seiten“.
Bereits seit 18 Jahren engagiert sich die Ravensburger Organisation „Tavir“ für Bildungsprojekte und Integration. In seinem Grußwort bekräftigte Mehmet Aksoyan, der stellvertretende Vorsitzende, den gemeinsamen Einsatz für Demokratie und Frieden. Franco Vogera aus dem italienischen Rivoli war bislang regelmäßiger Teilnehmer an der Gedenkfeier. Erstmals seit 30 Jahren könne er persönlich nicht dabei sein, betonten seine Vertreter und verlasen seine schriftliche Botschaft und Mahnung zum Frieden.
Info
Rund 800 Kriegsgefangene schuften im Goldbacher Stollen
Die auf dem KZ-Friedhof Birnau Beigesetzten gehörten zu einem Trupp von rund 800 Häftlingen aus dem KZ Dachau, die westlich von Überlingen vom Oktober 1944 bis April 1945 den Goldbacher Stollen in den dortigen Molassefelsen trieben, ein unterirdisches Stollensystem, in dem die Friedrichshafener Rüstungsbetriebe Dornier, Zeppelin, ZF und Maybach vor Bombardierungen durch die Luftwaffe der Alliierten geschützt sein sollten.
Ab Februar 1945 wurden 97 Tote im Wald Degenhardt bei Überlingen in einem Massengrab verscharrt; ihre Todesursachen waren Schussverletzungen, Hunger, Schwäche, Misshandlungen und „Arbeitsunfälle“. Nach Kriegsende wurden auf Befehl der französischen Militärregierung die sterblichen Überreste aus dem Waldstück exhumiert, am Landungsplatz in Überlingen in Holzsärgen aufgebahrt und am 9. April 1946 auf einem neu eingerichteten KZ-Friedhof bei der Birnau beigesetzt. Die Namen der Toten sind auf den Kissensteinen angegeben, einige sind digital archiviert.
Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten ist ein 1947 als Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) gegründeter Verband mit Sitz in Berlin. Die Vereinigung ging aus Zusammenschlüssen von Widerstandskämpfern und Nationalsozialismus-Verfolgten hervor. Diese Gruppierungen entstanden in der Zeit nach der Befreiung vom Nationalsozialismus im Jahr 1945.