Klettgau „Tabak und Schokolade“ ist eine Geschichte, die man am liebsten von Anfang bis Ende in einem Durchgang lesen möchte. Der Schweizer Autor Martin R. Dean stellte im Rahmen der grenzüberschreitenden Erzählzeit diesen, seinen neuesten Roman in Rechberg vor. Das Büchereiteam hatte zum 16. Mal eine Autorenlesung organisiert. Dabei hatten die Büchereidamen offensichtlich nicht mit so vielen Besuchern gerechnet, denn eiligst mussten zusätzliche Stühle herbeigeschafft werden.
Dean erzählt seine Familiengeschichte, die den Leser in den tropischen Dschungel der Kronkolonie Trinidad und in das urschweizerische ländliche Dorf Menziken im Kanton Aargau führt. Der Autor, Kind seiner Schweizer Mutter und einem Nachfahren indischer Kontraktarbeiter in Trinidad begibt sich auf die Spurensuche seiner Familie, er erzählt von einer tragisch-bitteren Familiengeschichte, geprägt von Rassismus, von den Auswirkungen des Kolonialismus und von Verdrängung. Er erzählt von seinem Leben als Außenseiter in der ländlichen Schweiz der 1960er/70er Jahre. Von seiner Suche nach der Vergangenheit seiner verstorbenen Mutter, ausgelöst durch ein Fotoalbum, das er nach ihrem Tod findet. Die Tochter einfacher Aargauer Stumpenarbeiter, der eine höhere Schulbildung verweigert wurde, sucht ihr Glück in in den 1950ern in London, wo sie sich in einen Farbigen aus Trinidad verliebt und von ihm ein Kind bekommt. Die Familie zieht kurz darauf nach Trinidad.
Diese frühen Kindheitsjahre des Autors liegen weitestgehend im Dunkeln, nur die alten Fotos aus dem Album liefern Hinweise auf seine Wurzeln. Diese erste Ehe mit dem gewalttätigen Säufer scheitert. Die Mutter heiratet erneut und kehrt mit ihrem kleinen Sohn und ihrem zweiten Mann, einem aus Trinidad stammenden, indischen Arzt, in den Aargau zurück. Die neue Familie baut sich hier eine sichere Zukunft in Menziken auf, in der die Jahre in Trinidad völlig ausgeblendet werden. Dean lebt zuerst im Haus seiner Großeltern, den Stumpenarbeitern, die sich in der hiesigen Tabakindustrie als billige Arbeiter verdingen, zu denen er ein inniges Verhältnis hat. „Der im Haus der Großeltern vorherrschende Geruch nach Tabak war Heimat“, beschreibt Dean diese Kindheitsjahre. Der soziale Aufstieg der neuen Familie gipfelt in einer mondänen „Betonvilla“ mit Arztpraxis. Die Vergangenheit der Mutter, ihre Jahre bei den „Wilden“ in der Karibik, wird geflissentlich verschwiegen und verdrängt. „Meine Mutter war eine Schweigerin und Verschweigerin“, sagt Dean über sie. Das zwiespältige Verhältnis der Mutter zu ihrem Sohn, als heimliche Verbündete aber auch Verräterin, wühlt auf. Und doch charakterisiert Dean sein Verhältnis zur Mutter als ein sehr enges.
Dasein als Sklavenarbeiter
Seine Recherche führt ihn nach Trinidad, diese Suche nach den frühen Jahren seiner Mutter und der Familie väterlicherseits führen ihm vor Augen, ein Nachfahre von indischen Kontraktarbeitern zu sein, deren grausames Dasein als Sklavenarbeiter in der britischen Kronkolonie, er mit den Treffen der noch lebenden indischen Verwandten in Trinidad Dean zurückverfolgt. Dem brutalen Rassismus in der Kronkolonie stellt Dean den heuchlerischen Rassismus der Schweiz gegenüber, deren Wirtschaft von der Sklavenarbeit in den Tabak- und Kakaoplantagen in Übersee überaus profitierte ohne diese unmenschlichen Arbeitsbedingungen zu hinterfragen.
Nach einer äußerst interessanten rund 50-minütigen Lesung hatten die Besucher die Gelegenheit, dem Autor Fragen zu stellen, die Dean ausführlich beantwortete. So führte er beispielweise aus, dass er seine Spurensuche anhand alter Fotos sowie den seltenen, bruchstückhaften Erzählungen seiner Mutter, die Geschichte wie ein Puzzle zusammenfügte. „Der Roman ist autofiktional mit Raum für Vermutung und Spekulation.“ Auch habe er dieses Buch erst nach dem Tod seiner Mutter veröffentlichen können, denn sie hätte es nicht verkraftet.