Erstmals seit der Wiedervereinigung gab es 2017 mehr Zugezogene von West nach Ost als andersherum — ich war eine davon. Der Liebe wegen zog es mich aus dem beschaulichen Lauchringen in die sächsische Landeshauptstadt Dresden. Ausreiseanträge, Mauerüberwindung und ähnliches gehört heute zum Glück der Vergangenheit an. Ich packte einfach mein Hab und Gut in mein kleines Auto und rund sieben Stunden später alles wieder aus. Hüben wie drüben entgegneten viele: „Wieso zieht ihr nicht im Westen zusammen?“

Mehr Lohn, mehr Feiertage und die Nähe zur Familie wären zweifelsfrei Argumente für meine süd-westliche Heimat gewesen. Doch der schnell gefundene Job, die direkte Flugverbindung nach Basel und Zürich und die Lust auf Veränderung sorgten für die Entscheidung. Bedenken in den Osten zu ziehen, hatte ich keine.

Ein ganz gewöhnlicher Umzug

In meinen Augen war es ein gewöhnlicher Umzug vom Hochrhein an die Elbe, von Lauchringen nach Dresden. Und weniger einer von West nach Ost. Denn wenige Monate vor dem Mauerfall geboren, ist ein geteiltes Deutschland für mich ein Kapitel aus dem Geschichtsunterricht — wenn auch eines, das in der Schule nur wenig Beachtung fand.

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Erst die Reaktionen anderer Personen brachten mich ein wenig ins Grübeln. Und ich glaube, dass Gleichaltrigen, die es in Großstädte wie Berlin, Hamburg oder München verschlägt, weniger Skepsis widerfährt. „Warum Dresden? Warum Sachsen? Warum in den Osten?“, hörte ich immer wieder, speziell mit Blick auf die politische Stimmung. Nicht zuletzt die Landtagswahl in Thüringen hat die Situation in den „neuen Bundesländern“ kürzlich einmal mehr verdeutlicht und auch Pegida dreht weiterhin jeden Montag unweit von meiner Wohnung seine Runden.

Doch Dresden — und der ganze Osten — ist viel mehr als Rechtsextremismus, Plattenbau und ein teils schwer zu verstehender Dialekt. Ich habe hier eine tolle zweite Heimat gefunden, mit guten Freunden und einem sicheren Arbeitsplatz.

Besser-Wessi und Jammer-Ossi?

Aber auch eine zweite Heimat, in der das Ost-West-Denken ebenfalls nach wie vor vorhanden ist. Noch immer fühlen sich einige beim Blick in Richtung Westen schlechter behandelt, kritisieren die niedrigeren Löhne und Renten, die fehlenden Argumente, die die Jugend in der Region halten. Besser-Wessi und Jammer-Ossi — auch 30 Jahre nach der Wende noch ein Thema.

Dana Coordes aus Lauchringen mit ihrem Trabi vor der Semperoper in Dresden.
Dana Coordes aus Lauchringen mit ihrem Trabi vor der Semperoper in Dresden. | Bild: Franziska Plog

Menschen in meinem Alter sind der letzte Jahrgang und die letzte Generation, deren Geburtsland DDR mit dem Fall der Mauer zusammengebrochen ist. Ein Land, das in der Geburtsurkunde steht, aber nicht mehr existiert. Eine Generation, die zwischen neuer Freiheit und „Alle sind gleich“ aufgewachsen ist und erzogen wurde, die sich mit der Geschichte auseinandersetzt und sich damit verbunden fühlt, ohne sie direkt erlebt zu haben. Mit meinen Freunden „Zuhause“ war das nie ein Thema, hier wird mit Freunden, Kollegen und Eltern oft darüber gesprochen. Schließlich war jeder auf seine Art von diesem Kapitel der deutschen Geschichte betroffen.

Ein paar Unterschiede und viele Gemeinsamkeiten

Die Unterschiede kennenzulernen, die das Aufwachsen in Ost und West mit sich gebracht haben, ist für mich eine besonders spannende Erfahrung. Manche liegen allerdings vermutlich auch am Unterschied zwischen ländlichem Raum und Großstadt, schließlich hat Dresden rund dreimal so viele Einwohner wie der gesamte Landkreis Waldshut. Auch nach zwei Jahren „drüben“ erlebe ich immer wieder „Bei uns war das anders“-Momente. Einer davon war zu erfahren, was ein Hort ist. Dass ich damals als Kind nach dem Unterricht nach Hause ging und nachmittags mit Freunden spielte, war für mich völlig selbstverständlich. Dass meine Freundin in Dresden nach der Schule im Hort blieb, dort mit Freunden spielte und oft erst gegen 18 Uhr abgeholt wurde, das kannte ich nicht.

Doch genauso gibt es auch viele Gemeinsamkeiten: der fragwürdige Kleidungsstil, der sich durch die 1990er-Jahre zog, die Spiele, die wir spielten, die Fernsehserien, die wir schauten. Vermutlich sind es in unserer Generation sogar mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede – dank der Wiedervereinigung.

Mittlerweile bleiben in meinem Umfeld Fragen, wieso es mich von West nach Ost zog, aus. Stattdessen heißt es dann: „Dresden? Da komme ich dich mal besuchen.“ Ich selbst bin mittlerweile hier angekommen, perfektioniere die Aussprache mancher sächsischer Begriffe und habe meinen Renault gegen einen Trabi getauscht. Ob ich mich für manche dadurch vom Wessi zum Ossi wandle? Mir ist es egal.

Ich sehe mich als Lauchringerin, die jetzt in Dresden lebt und die Freiheit zu schätzen weiß, die wir mittlerweile genießen. Bis aber alle Mauern, vor allem die in den Köpfen, abgerissen sind, bis alle Vorurteile vergessen und die Wiedervereinigung wirklich abgeschlossen ist, wird es wohl noch einige Zeit dauern, aber es wird sich lohnen.