Die meisten Menschen erinnern sich noch genau daran, was sie taten, als die Mauer fiel. Von Kanzlerin Angela Merkel ist bekannt, dass sie gerade in der Sauna saß, während sich die Grenzen zwischen Ost- und Westberlin am Abend des 9. November 1989 nach Jahren der Teilung öffneten. Und ein früherer Kollege erzählte mal, dass er sich zu diesem Zeitpunkt die Zähne putzte.

Mit dem Interzonenzug in den Westen

Ich selbst habe keinerlei Erinnerungen an diesen historischen Moment, obwohl ich damals bereits elf Jahre alt war. Vielleicht liegt es daran, dass ich meine persönliche Wende eineinhalb Jahre zuvor erlebt hatte. In der Nacht auf den 1. Juni 1988 war ich mit meiner Familie aus der damaligen DDR in den Westen ausgereist. Meine Eltern mit Koffern und Reisetaschen bepackt, ich mit Rucksack auf dem Rücken und meinem großen Plüschbiber namens Denti im Arm, benannt nach dem Nagetier aus der Zahnpastawerbung im Westfernsehen, stiegen wir im thüringischen Probstzella in den sogenannten Interzonenzug. Dieser brachte uns über Nürnberg, Stuttgart und Singen in unsere neue Heimat – nach Waldshut.

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Natürlich konnte man damals nicht ohne Weiteres die sogenannte Ostzone verlassen. Der Eiserne Vorhang schränkte für die Mehrheit der DDR-Bürger den internationalen Reiseverkehr ein. Wer dauerhaft in den Westen wollte, musste entweder Rentner sein, flüchten oder viel Geduld aufbringen. Meine Eltern hatten sich für letzteren Weg entschieden. Eine Flucht mit einem Kind kam für sie nicht in Frage. Deshalb stellten sie 1984 einen Ausreiseantrag, der für unsere Familie etliche Repressalien im Alltag zur Folge hatte.

Als Staatenlose über Schweizer Gebiet

Nach vierjähriger Wartezeit durften wir endlich ausreisen – als vorübergehend Staatenlose, entlassen aus der DDR-Staatsbürgerschaft. Weil die Reise über Schweizer Gebiet führte – Waldshut ist bis heute mit dem Zug nur über Basel oder Schaffhausen zu erreichen – erkundigte sich mein Vater vorsichtshalber am Bahnhof im Stuttgart, ob wir in Schaffhausen überhaupt umsteigen durften. Um Schwierigkeiten zu vermeiden, riet man uns, sicherheitshalber in Singen den Zug zu wechseln.

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In Waldshut empfingen uns meine Oma und Uroma, die bereits seit Jahren beziehungsweise Jahrzehnten in Westdeutschland lebten. Warum es uns ausgerechnet nach Waldshut verschlug? Weil mein Vater dort ein Haus von seinem Stiefopa, einem Waldshuter Geschäftsmann, geerbt hatte. Dadurch hatten wir gleich ein eigenes Dach über dem Kopf und mussten nicht, wie die meisten DDR-Flüchtlinge und Emigranten, Unterschlupf in einem Auffanglager suchen.

Wir kamen an einem Mittwoch in Waldshut an. Am Donnerstag war Feiertag – Fronleichnam, von dem ich als Protestantenkind nie zuvor gehört hatte –, am Freitag meldeten meine Eltern uns auf dem Rathaus und mich in der Schule an, und am Samstag drückte ich bereits die Schulbank in der Heinrich-Hansjakob-Schule. An diesem Tag regnete es, das weiß ich noch.

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Die Exotin aus dem Osten

Erinnern kann ich mich auch noch an das Gefühl, wie es war, in die neue Klasse zu kommen. Auf viele Kinder schien ich wie eine Exotin zu wirken. Mitschüler aus Italien oder der Türkei kannten sie im Gegensatz zu mir, aber ein Mädchen aus dem Osten war neu für sie. Manche waren überrascht, dass ich die gleiche Sprache wie sie sprach und die gleichen Klamotten trug: Jeans und Micky-Maus-Pullover, die mir meine Oma im Westpaket geschickt hatte.

Einen Konsumschock, wie ihn die in der DDR aufgewachsene Schauspielerin Nadja Uhl unlängst in einem in dieser Zeitung veröffentlichten Interview beschrieb, erlebte ich nicht. „Es war zu bunt, zu grell, die Gerüche zu synthetisch“, sagte sie über ihren ersten Besuch in West-Berlin nach dem Fall der Mauer, dessen viele Eindrücke bei ihr Kopfschmerzen ausgelöst hätten.

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Diese Eindrücke kann ich nicht bestätigen, aber das beschauliche Waldshut ließ sich auch nicht mit der Metropole West-Berlin vergleichen. Außerdem hatte ich einen Großteil der bunten Produkte bereits aus besagten Westpaketen und den Werbespots im Westfernsehen gekannt. Allerdings weiß ich noch, wie toll ich damals die Schnellhefter aus Plastik fand, die ich für die Schule kaufen musste. In der DDR hatten wir nur welche aus Pappe. Heute ist es genau umgekehrt: Plastik ist verpönt, Pappe wieder im Trend. Was Nachhaltigkeit betrifft, schien die DDR ein Vorreiter gewesen zu sein.

Zeitzeugin der deutsch-deutschen Geschichte

Inzwischen lebe ich seit 31 Jahren mit Unterbrechungen während des Studiums in Waldshut. Vor 30 Jahren wurde meine Schwester hier geboren. Meine Mutter sagt manchmal scherzhaft: „Ich habe ein Ost-Kind und ein West-Kind.“ Nachdem ich mehr als drei Viertel meines Lebens im Westen verbracht habe, sehe ich mich nicht mehr als Ossi. Stattdessen bin ich stolz, dass ich Zeitzeugin der deutsch-deutschen Geschichte bin.

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