Ihm ist die Erleichterung anzusehen, dennoch wirkt Vladimir Kulagin immer noch angespannt, wenn er davon erzählt, wie er seine Familie aus Odessa holte. Am 28. Februar, vier Tage nach dem Überfall des russischen Militärs, machte sich der 63-jährige Ukrainer von Stühlingen aus auf die lange Reise, um seine Frau und seine Tochter aus dem Krieg in seiner Heimat in Sicherheit zu bringen.
Mit Hilfe von Janina Sperisen, die einige slavische Sprachen spricht und ihrer ukrainischen Mitarbeiterin Natalia Soloviova, die eigentlich in Polen arbeitet, konnte Südkurier Online mit Kulagin über seine Ergebnisse auf dieser langen Reise sprechen.
Eine Fahrt ins Ungewisse
„Es geht mir gut“, sagt er mit einem Lächeln. Und dann erzählt er wort- und gestenreich von seiner Fahrt ins Ungewisse. Seine erste Station war in Polen die Niederlassung seines Arbeitgebers. Die Inhaber der Spedition LOG, Janina und Rolf Sperisen, hatten ihn tatkräftig unterstützt. Sein Kleintransporter war bis unters Dach mit Lebensmitteln und Hygieneartikeln vollgepackt.

Nachdem die notwendigen Frachtpapiere ausgestellt waren, ging die Reise ohne Probleme durch die Slowakei, Ungarn, Rumänien und Moldawien. Weil niemand genau sagen konnte, wie es laufen würde, statteten die Sperisens ihn mit Bargeld aus. In Moldawien konnte er damit den Tank füllen, ein Liter Diesel kostet dort einen Euro. Unruhig wurde Janina Sperisen, die von Stühlingen die Tour begleitete, als in Moldawien plötzlich der Kontakt abbrach. „Er hat sich dann aber per SMS gemeldet, das war beruhigend.“
„Nachdem an der Grenze zur Ukraine klar war, dass ich humanitäre Hilfsgüter geladen habe, konnte ich weiterfahren“, erzählt Kulagin. Auf den nur 30 Kilometern bis zur Hafenstadt Odessa habe er keine russischen Soldaten gesehen. Als er dort war, wollte er ein bisschen schlafen, seine Warnapp auf dem Handy und Sirenengeheul weckten ihn nach zwei Stunden nachts um 2 Uhr schon wieder auf. „Es ist dann aber nichts passiert“, berichtet er weiter.
Als er sich am Morgen mit seinem Wagen in eine Siedlung abstellte, in der vorwiegend ärmere Leute leben, „war der Kastenwagen ruckzuck leer“. Die Menschen, die er mit zurücknehmen wollte, musste er aber noch informieren. Neben seiner Frau und der Tochter fanden sechs weitere Frauen und Kinder Platz, darunter ein 15 Monate altes Kleinkind und eine 80-Jährige sowie ein kleiner Hund. Auffallend war, dass in Odessa sehr wenige Menschen auf der Straße waren.
Keine Gedanken an mögliche Gefahren
Als Vladimir Kulagin mit der wertvollsten Fracht, die er jemals hatte, wieder zurückwollte, stockte es zwölf Kilometer vor der Grenze plötzlich. Immer wenn es ein Stück weiterging, wurde er bis zur Grenze von einer Mitfahrerin geweckt: „Um sechs Uhr abends standen wir am Ende des dreispurigen Staus, um acht Uhr morgens waren wir endlich aus der Ukraine raus.“
An mögliche Gefahren, die bei der Fahrt durch ein Kriegsgebiet schnell real werden können, hat Vladimir Kulagin keine Gedanken verschwendet: „Meine Familie war da, da gab es keine Zeit darüber nachzudenken, ob es auf dieser Fahrt gefährlich werden könnte. Klar war da Angst, aber da war einfach zu viel Adrenalin in meinen Körper, um an Gefahren zu denken.“
Weil die Autos nicht durchkamen, gingen viele Frauen und Kinder zu Fuß die fünf, sechs Kilometer bis zur moldawischen Grenze. „Manche Männer brachten ihre Familie mit drei, vier Autos her und fuhren anschließend mit einem Auto zurück – in den Krieg“, erzählt Kulakin. Über die Grenze wären sie sowieso nicht gekommen. Er selbst wurde nicht zurückgeschickt, weil er über 60 Jahre alt ist. Aber er spürte, dass Leute, die zur Grenze kamen, nervös warten.
In Moldawien gibt es für die Kinder Eiscreme
In Moldawien angekommen, fiel eine große Last von der kleinen Reisegruppe ab. „Für die Kinder gab es erst einmal Eiscreme“, erzählt er. Eine Woche war Vladimir Kulakin unterwegs, durch Moldawien wurde er zeitweise sogar von der Polizei begleitet, weil das Navi nicht funktionierte. In Rumänien erlebte die Gruppe aus der Ukraine viel Hilfsbereitschaft und sie sahen vom Hotel aus, in den sie sich eine Pause gönnten, sogar einen kleinen Bären.
Nur 20 Stunden konnte er auf dieser 5500 Kilometer langen Fahrt schlafen. Endlich angekommen, öffnete sich die Tür des Kleintransporters und die acht Flüchtlinge standen auf Stühlinger Boden – der Krieg war plötzlich weit weg. „Alle haben ,Dankeschön‘ zu Rolf und Janina Sperisen gesagt: Das haben wir auf der langen Fahrt geübt“, erzählt Kulakin weiter.
„Ich bin Rolf und Janina sehr dankbar, sie haben meine Frau und meine Tochter gerettet. Ich wüsste nicht, was meiner Familie passiert wäre, wenn sie in der Ukraine geblieben wären.“ Janina Sperisen wehrt ab und meint nur: „Vladimir hat das Teuerste geholt, was er in seinem Leben hat – seine Familie.“ Sie leben momentan in den Gebäuden der Spedition im Sulzfeld, wo eigens Besprechungszimmer und Büros freigeräumt wurden.
Die ganze Region unterstützt die Hilfsaktion

Und was hat Vladimir Kulakin gemacht, nachdem er seine Familie in Sicherheit wusste? Er schließ sich einen Tag aus, stieg in seinen Lastwagen und fuhr Hilfsgüter nach Polen. „Ich bin Fahrer, wenn ich fahre, fühle ich mich fit und gesund!“ Klare Worte findet er zum Krieg in seiner Heimat: „Es ist schrecklich, was dort passiert. Ich kann nicht verstehen warum und wozu. Das Volk leidet und keiner will diesen Krieg!“