Wie stark wirkt sich der seit Jahren anhaltende Krisenmodus in Land und Region eigentlich auf die psychische Verfassung der Menschen aus? Oder anders herum: Lässt sich der inzwischen bereits zur Normalität gewordene Krisenmodus auch an der Zahl der Behandlungsfälle im Psychiatrischen Behandlungszentrum in Waldshut-Tiengen ablesen?
Eine pauschale Antwort lässt sich darauf nicht geben, wie die Ärztliche Direktorin des PBZ, Claudia Vallentin, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, darstellt. Gleichwohl seien gewisse Tendenzen erkennbar.
Mehr Suchterkrankungen während Corona

„Die Fallzahlen in unserer stationären Abteilung sind relativ konstant“, sagt Vallentin. Etwa 620 Fälle werden in Waldshut-Tiengen jährlich behandelt. Daran habe sich auch während Corona nicht merklich verändert zumal: „Unsere Bestandspatienten haben wir durchgehend behandelt“, so Vallentin weiter.
Aber dennoch gebe es Veränderungen. Im stationären Bereich bekämen es Ärzte und Pflegepersonal beispielsweise verstärkt mit Suchtproblematiken zu tun: „Konsumintensität und -muster haben sich gerade während der Pandemie bei Leuten mit Abhängigkeitsneigung deutlich verändert“, schildert Vallentin.
Noch sei kein verlässlicher Überblick über die tatsächlichen Ausmaße feststellbar. Erklärungen gebe es aber durchaus: Gerade die Lockdowns hätten durchaus mit Veränderungen im Konsumverhalten zu tun. Es hänge aber auch mit Ängsten und Unsicherheiten zusammen, mit Sorgen vor wirtschaftlichen Konsequenzen, wie sie bei allen Krisen mitschwingen.
Beschränkungen bei ambulanten Angeboten verschärfen häufig Probleme
Wesentlich deutlicher seien die Veränderungen in der Ambulanz feststellbar. Dies sei zugleich der Bereich, der gerade in der heißen Phase der Pandemie am massivsten beeinträchtigt gewesen sei, so die Ärztliche Direktorin. Denn einerseits seien aus Gründen des Infektionsschutzes Angebote beschränkt oder ganz ausgesetzt worden. „Viele Menschen haben aber auch aus Angst um ihre Gesundheit häufig Hilfe nicht in erforderlichem Maße in Anspruch genommen.“
Wie groß der Kreis der Betroffenen unterm Strich sein könnte, lasse sich aktuell noch gar nicht abschätzen. Aber: „Wir registrieren eine deutliche Zunahme von Fällen mit Ängsten bis hin zu depressiven Störungsbildungen“, schildert die Fachärztin. Das betreffe nicht zuletzt junge Erwachsene, die teils unter erheblichen Existenzängsten litten.
Vor allem junge Erwachsene haben unter Defiziten zu leiden
„Gerade jungen Leuten wurde durch die Lockdowns unheimlich viel genommen, gerade mit Blick auf soziale Erfahrungen. Den jetzt 18- bis 20-Jährigen fehlt wirklich was“, beschreibt es der Pflegedienstleite des PBZ, Lorenzo Fenech. Kein Wunder, waren für sie die Folgen der Corona-Beschränkungen für ihr soziales Leben doch besonders gravierend.
„Es war unglaublich schwer, in dieser Situation soziale Kontakte zu knüpfen oder an einem neuen Wohnort Fuß zu fassen, denn das Leben spielte sich in weiten Teilen vor dem Bildschirm in der eigenen Wohnung ab“, so Fenech. Das hätten längst nicht alle gleich gut verkraftet
Drei Krisen-Typen mit unterschiedlicher Haltung zu Corona
Grundsätzlich identifiziert Claudia Vallentin bei der Analyse der Corona-Jahre drei Bewältigungs-Gruppen: „Es gab die Leute, für die das Ganze mit einer Verbesserung des Wohlgefühls verbunden war, weil sich ihr Alltag schlagartig entspannt hat und viele Verpflichtungen weggefallen sind.“ Gruppe zwei habe zunächst mit Ängsten reagiert, sich im Lauf der Zeit aber wieder gefangen.
Am bedenklichsten seien aber sicherlich diejenigen, für die die Corona-Beschränkungen mit einer Verschlechterung der Gesamtsituation einhergegangen seien – weil sie sich etwa komplett aus dem sozialen Leben zurückgezogen hätten und sich schwer tun, wieder in die Normalität zurück zu finden: „Wenn das Home-Office zum sozialen Rückzugsort wird, ist das nicht gut“, sagt Vallentin. Hier seien auch noch erhebliche Behandlungsbedarfe zu erwarten.
Impulsivität nimmt zu
Und es sind auch gesellschaftliche Veränderungen feststellbar. „Die generelle Frusttoleranz ist gesunken, die Menschen sind merklich dünnhäutiger“, so Claudia Vallentin.
Die Impulsivität in der Gesellschaft habe zugenommen, schneller als früher eskalierten Auseinandersetzungen, die sich eigentlich an Kleinigkeiten entsponnen hätten, stellt auch Lorenzo Fenech fest: „Das hat aber nicht unbedingt etwas mit einer psychischen Erkrankung zu tun, sondern ist eher Ausdruck der Anspannung.“
Ebenso seien auch Leute, die mit Verschwörungserzählungen sympathisieren, nicht zwingend psychisch krank: „Es ist ein natürliches Verhalten, sich einfache Erklärungen für komplexe Sachverhalte zu suchen“, sagt Claudia Vallentin.
Wie geht es weiter?
„Ein Patentrezept gibt es sicherlich nicht“, sagt die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Im Zweifel könnten Experten aber auch nur motivieren, sich Hilfe zu suchen. Das gelte generell, für Menschen, die leiden, aber ganz besonders. „Einem möglichst niederschwelligen Angebot, dass schon sehr frühzeitig ansetzt und verschiedene, fließende Übergänge bietet, kommt dabei eine besondere Bedeutung zu“, sagt Fenech.
Dass sich diesbezüglich gesellschaftlich vieles zum Positiven entwickelt habe, dass psychische Erkrankungen nicht mehr in einer Weise stigmatisiert werden, wie noch vor einigen Jahren, werten die beiden Experten auf jeden Fall als Vorteil.