Pandemie, Fernunterricht und zuletzt noch ein Krieg in Europa: Die vergangenen Jahre sind geprägt von Ereignissen, die vielen Menschen Sicherheiten nehmen, die lange selbstverständlich waren. Kinder und Jugendliche können besonders stark davon betroffen sein. Die Nachfrage nach professioneller Hilfe bei psychischen Erkrankungen wird immer größer. Clemens Keutler, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Lörrach: „Vermutlich sehen wir jetzt erst die Spitze des Eisbergs. Wir rechnen mit einem längeren Nachhall-Effekt.“

Familien leiden

Clemens Keutler ist der Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Lörrach. Er sagt, dass die Warteliste der Klinik voll seien.
Clemens Keutler ist der Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Lörrach. Er sagt, dass die Warteliste der Klinik voll seien. | Bild: Esteban Waid

Die Krisen würden Kinder und Eltern gleichermaßen verunsichern. Dadurch werde auch das gesamte Familiensystem belastet, sodass Kinder und Jugendlichen nicht mehr alleine aus einer Krise finden.

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Keutler sagt, dass die Fälle bei jungen Menschen steigen – nicht nur quantitativ, auch qualitativ. Es werden mehr und sie werden schlimmer. Doch die Deckung dieses Bedarfs hinkt seit Jahren hinterher. Aber wie ist die Lage in der Region?

Zu wenig Kinderpsychiater

Die Zahl von Kinder- und Jugendpsychiatern in der Region ist gering. Die Kassenärztliche Vereinigung Baden Württemberg (KVBW), die den Bedarf an Allgemein- und Fachärzten in verschiedenen Regionen ermittelt und überwacht, gibt an, dass in der Region Hochrhein-Bodensee Plätze frei sind.

50 Prozent Kinder- und Jugendpsychiater fehlen in Region

Kai Sonntag, Leiter der Stabstelle Öffentlichkeitsarbeit bei der KVBW, erklärt auf Anfrage: „Wir haben auf alle Fälle zu wenige Kinder- und Jugendpsychiater in der Region.“ Die Sollgröße liege bei acht Fachärzten für das Gebiet, aktuell gibt es vier.

Allerdings: „Aus unserer Erfahrung heraus übernehmen auch die Kinder- und Jugendpsychotherapeuten einen Teil der Versorgung, wenn keine Medikamente benötigt werden“, führt Sonntag aus.

Auch in Psychiatrien fehlt das Personal

Ein Eindruck, den auch Clemens Keutler bestätigt. Dies sei aber nicht nur auf die aktuellen Krisen zurückzuführen, sondern war schon vorher ein Problem. „In Baden Württemberg stehen uns nur 68 Prozent des Bundesdurchschnitts an Behandlungsplätzen in der KJPP [Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Anm. d. Red.] zur Verfügung“, erklärt er.

Keutler sagt sogar, dass das Einzugsgebiet mit der Außenstation in Lauchringen im Vergleich gut dastehe. Mit dem neuen Zentrum für Psychiatrie, das gemeinsam mit dem neuen Zentralklinikum in Lörrach gebaut wird, werde sich die Situation in der Zukunft sogar verbessern, sagt Keutler.

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Hinzu kommt aber, dass die Einrichtung Probleme hat, Stellen zu besetzten. So wie es in vielen Branchen der Fall ist. „Wie suchen schon seit Jahren beispielsweise nach einem weiteren Oberarzt“, so Keutler. Auch in Lauchringen versuche man derzeit, Stellen zu besetzten. Das sei aber ein deutschlandweites Problem, wie der Chefarzt erklärt.

Bürokratie raubt die knappe Zeit

Kurzfristig lässt sich der Personalmangel wohl kaum beheben. Die Patienten-Wartelisten sind lang, und auch die Ambulanz hat ihre Engpässe. Dennoch sieht Keutler viel Potenzial, um kurzfristig zu handeln. „Wir haben viele Regelungen, die wir als Gängelungen empfinden.“ Er meint damit die Kontrollen des Medizinischen Dienst (MD). Dieser überprüft im Auftrag der Krankenkassen regelmäßig, ob beispielsweise die Liegezeiten von Patienten zu lang sind. Diese fänden aber oft ohne ersichtlichen Grund statt. Zu einem Ergebnis kämen diese Überprüfungen außerdem nie, stattdessen kosten sie Zeit, so Keutler.

Der Chefarzt berichtet außerdem von einer „überbordenden Dokumentationspflicht“. „Es sind alle am Anschlag. Mit fehlt da ein Entgegenkommen bei der Bürokratie“, sagt Keutler.

Der Eingang der Kinder- und Jugendpsychiatrie des St. Elisabethen-Krankenhaus in Lörrach.
Der Eingang der Kinder- und Jugendpsychiatrie des St. Elisabethen-Krankenhaus in Lörrach. | Bild: Esteban Waid

Auf Anfrage des SÜDKURIER erklärt der MD Baden-Württemberg, dass die Grundlagen für die Überprüfungen neu aufgestellt wurden, nachdem diese in den vergangenen Jahren zugenommen hatten. „Die Medizinischen Dienste haben die Zielsetzung des Gesetzes, die Anzahl der Prüfungen durch einen selektiven Prüfansatz zu reduzieren und die gleichzeitige Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Abrechnungsprüfungen begrüßt“, so eine Sprecherin in ihrer Antwort.

Man ist also auch vonseiten des Medizinischen Dienstes gewillt, die bürokratischen Abläufe zu reduzieren.

Zunahme der Behandlungen

Im Verlauf der Corona-Pandemie haben die Behandlungszahlen von Kindern und Jugendlichen zugenommen, das konnte die KVBaWue im Vergleich zu den Zahlen aus 2019 feststellen. Im dritten Quartal 2021 war sie um 6,4 Prozent höher als zwei Jahre zuvor. Ob die Pandemie tatsächlich der Auslöser dafür war, könne nicht mit Sicherheit gesagt werden. Der Krieg in der Ukraine findet sich noch nicht in den aktuellen Auswertungen.

Die gestiegenen Zahlen müssen dabei nicht zwingend dem tatsächlichen Bedarf entsprechen, „der könnte auch wesentlich höher sein und die Wartezeiten damit länger sein“, sagt Sonntag.

Auch im Kreis Waldshut steigt der Bedarf

Die psychologische Beratungsstelle des Landratsamts für Eltern, Kinder und Jugendliche hilft bei der Klärung und Bewältigung von Problemen, sowohl individueller als auch familienbezogener Art. Darüber hinaus unterstützt und begleitet die Beratungsstelle bei der Suche nach einem Platz bei einem Kinder- und Jugendpsychologen, sollte das nötig sein.

Auf Anfrage bestätigt auch die Beratungsstelle, dass die Anfragen von Familien mit Unterstützungs- und Hilfebedarf kontinuierlich ansteigen. Dieser Effekt sei bereits vor der Pandemie zu beobachten gewesen, wurde aber dann noch weiter verstärkt. Auch die Wartezeiten für Betreuungs- oder Therapieplätze würden immer länger.

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