Mit der Corona-Pandemie, die seit gut anderthalb Jahren unser Leben bestimmt, sind Entwicklungen eingetreten, die von vielen Menschen als bedenklich wahrgenommen werden. Herrschte anfangs noch eine breite Solidarität, eine Art gesellschaftlicher Konsens, dass die Krise nur gemeinsam bewältigt werden könne, gibt es nun vor allem Opposition – gegen staatliche Maßnahmen ebenso wie gegen anderslautende Meinungen. Was als lautstarke Pöbelei im Internet begann, hat längst den Weg auf die Straßen gefunden. Unter dem Deckmantel der „Corona-Skepsis“ sind selbst absurdeste Mythen und Theorien salonfähig geworden. Und eine latente Aggression scheint zum ständigen Begleiter geworden zu sein.

Was ist nur los mit unserer Gesellschaft? Woher kommt die Überreiztheit, verbunden mit dem zunehmenden Unwillen, andere Ansichten zu akzeptieren? Und wie soll so die Rückkehr zur Normalität gelingen?

Es handle sich um ein durchaus komplexes Themenfeld, wie Andreas Jähne, Chefarzt und Ärztlicher Direktor der Oberberg Fachklinik Rhein-Jura, im Gespräch mit unserer Zeitung darstellt. Vor allem warnt er vor Pauschalisierungen, wie sie ihm immer wieder begegnen: „Seltsame Ansichten sind noch lange kein Fall für eine Therapie.“ Tatsächlich käme eine psychiatrische Behandlung erst dann in Betracht, wenn aus einer Meinung eine Wahnkrankheit oder eine Angststörung erwachse. Das jedoch sei überaus selten der Fall.

„Normalität ist vielen abhanden gekommen“

Wenn man sich die verschiedenen opponierenden Gruppierungen, die sich während der Pandemie gebildet haben, genauer ansehe, sei die Ursache zunächst einmal nachvollziehbar: „Uns ist die Normalität, wie wir sie kannten, schlagartig abhanden gekommen. An ihre Stelle sind Erlasse, Verbote, Verhaltensregeln getreten, die den Alltag strikt beschränken und möglicherweise nicht immer einleuchten. Das ruft zunächst einmal einen gewissen Widerstand hervor, weil es direkt in unser Leben eingreift“, so Jähne.

Die Lockdowns hätten Gefühle des Eingesperrtseins hervorgerufen oder noch verstärkt, hinzu kämen Zusatzbelastungen wie Home-Office und Homeschooling, und eben eine drastische Verringerung von Sozialkontakten, weil Vereine, Kinos, Theater und weitere Kulturanbieter ihre Aktivitäten ruhen lassen, die Gastronomie und Bars und Clubs über lange Zeiträume geschlossen waren und selbst Familientreffen über Monate hinweg nur begrenzt möglich waren

Sorgen und mangelnder Ausgleich schüren Frust

„Es fehlte der Ausgleich, ein Ventil, um den Frust herauszulassen und sich über Sorgen auszutauschen“, so Jähne. Denn Sorgen hätten sich bei vielen ergeben – etwa um den eigenen Arbeitsplatz. Hinzu kamen andere Phänomene: Spannungen in der Familie, wenn man sich über lange Zeit kaum aus dem Weg gehen konnte, weil sich Berufs- und Privatleben komplett auf die Wohnung verlagert haben. Auf der anderen Seite Vereinsamung, weil es keine Treffpunkte mehr gab. Kurz gesagt: „Es hat sich auf verschiedenen Ebenen viel aufgestaut, die Menschen haben die Pandemie vor allem mit schweren Eingriffen in die persönliche Lebensgestaltung verbunden. Da wird natürlich häufig früher oder später nach Schuldigen gesucht.“

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Nicht selten resultiere eine solche Herangehensweise in Misstrauen gegenüber etablierten Institutionen von Medien bis zum Staat selbst, der für all die Einschnitte verantwortlich gemacht werden. Staatsorgane, der Krisenstab im Landratsamt oder einfach „die Regierung“ werden in solchen Kontexten schnell zu den Schuldigen der Misere erkoren, dabei zielten die ergriffenen Maßnahmen eigentlich auf den Schutz der Bevölkerung ab.

„Menschen suchen einfache Antworten auf komplexe Fragen“

Aber genau diese Vereinfachung sei symptomatisch für die jetzige Lage, so Jähne: „Unterm Strich suchen Menschen immer nach einfachen Erklärungen, auch wenn es um komplexe Zusammenhänge geht.“ Da sei natürlich Spekulationen Tür und Tor geöffnet, wenn es – wie während Corona – bei weitem noch nicht auf alle Fragen eine Antwort gebe. „Und ehrlicherweise sind gerade in der Anfangszeit der Pandemie auch viele Fehler passiert, vor allem weil man keine Erfahrungswerte hatte. Das wird nun aus der Rückschau nun ganz anders ausgelegt, häufig als Mutwilligkeit“, sagt Jähne.

Die Möglichkeiten des Internets hätten die Leute wiederum dazu veranlasst, auf eigene Faust auf die Suche nach Informationen zu gehen. Fatal sei jedoch, dass dies vielfach abseits der seriösen Pfade passiert sei. Verstärkt worden sei die Problematik durch die Systematik der modernen sozialen Medien, die jeden Nutzer in maßgeschneiderte Informations-Blasen hüllen, in denen auch keine Theorie mehr abwegig genug ist, um noch Anhänger zu finden: „Da befinde ich mich dann auch schnell in einer abgeschlossenen Gruppe Gleichgesinnter, die auch nur bestimmte Informationen akzeptiert und auf dieser Basis irgendwie plausibel erklären kann“, so Jähne weiter.

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Misstrauen gegenüber seriösen Quellen und anderen Ansichten

Problematisch sei es aus Sicht des des Psychiaters und Psychotherapeuten, dass die Gruppen unter einander nicht mehr in einen Diskurs kommen, dies oft auch gar nicht wollen. Akzeptiert werde nur, was die eigene Meinung bestätige. Andersdenkende werden diffamiert, anstatt zumindest zuzuhören und zu versuchen, die Perspektive der „anderen“ zu verstehen und zu respektieren. An die Stelle einer offenen Debatte seien Misstrauen, Vorwürfe und nicht selten aggressive Umgangsformen getreten.

Diese Aggressionen entzünden sich im Alltag häufig an relativen Nichtigkeiten, auch abhängig davon, wie groß die persönliche Betroffenheit durch die Corona-Pandemie ist oder war: „Wenn jemand gerade einen Angehörigen durch eine Covid 19-Erkrankung verloren hat, hat er natürlich wenig Verständnis für einen Maskenverweigerer oder Corona-Leugner.“ Zum anderen hat bei vielen glücklicherweise seither keine solche Erfahrung mit schwerer oder gar tödlicher Covid-Infektion stattgefunden. Dann nimmt nicht selten die Überzeugung stetig zu, dass die Pandemie „gar nicht so schlimm ist wie behauptet“, „die Maßnahmen übertrieben“ seien und die Empathie für und die Loyalität mit Betroffenen nimmt ab.

Erst recht schwierig wird es bei polarisierenden Themen wie dem Impfen, wo die Fronten zwischenzeitlich so verhärtet sind, dass ein konstruktiver Austausch kaum noch vorstellbar ist, zumal die daraus resultierenden Konflikte unter Umständen bis in den Familienkreis reichen.

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Wie soll Rückkehr zur Normalität gelingen?

Es sei mithin eine schwierige Gesamtgemengelage, die sich auch sehr emotional aufgeladen sei, so Jähnes Eindruck: „Das erschwert natürlich perspektivisch gesehen auch die Rückkehr zu einer neuen Form der Normalität. Denn einer der Eckpfeiler unserer Gesellschaft ist Respekt vor der Meinung anderer. Das setzt allerdings Gegenseitigkeit voraus“, beschreibt es Jähne.

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Es stehe also eine gewaltige gesamtgesellschaftliche Herausforderung bevor, wolle man die unterschiedlichen Gruppierungen und Lager nach der Pandemie wieder zusammenzubringen. Unmöglich erscheine ihm diese Aufgabe allerdings nicht: „Wir haben auch schon ganz andere Probleme bewältigt.“ Möglicherweise sei das „ur-menschliche Bedürfnis nach Gemeinschaft“ ein guter Ansatzpunkt, etwa indem man Einladungen zu unverfänglichen Aktionen ausspricht.

Dinge gemeinsam tun und gemeinsam erleben, verbindet. Auch wenn man ich einigen Punkten verschiedener Meinung ist, hat man zum Beispiel in der Sportmannschaft ein gemeinsames Ziel. Eine andere Möglichkeit, wieder zu mehr Gemeinsamkeit und gegenseitiger Akzeptanz zu kommen, ist, Meinungen und Positionen bezüglich der Corona-Pandemie nicht auf andere, ja nahezu alle Lebens- und Meinungsbereiche auszudehnen. Auch wenn man bei Positionen zur Pandemie und den Maßnahmen völlig konträre Ansichten haben mag, gibt es in der Regel viele andere Bereiche und ein deutliches Mehr an dem, was unsere Beziehungen ausmacht und unsere Gesellschaft zusammenhält. Und diese Werte des Zusammenseins und des Miteinanders sind die, die unsere Gesellschaft auch in ihrer Vielfalt ausmachen, und diese müssen gelebt und gepflegt werden.

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Man dürfe daher auch in seinem persönlichen Umfeld nicht nachlassen, zumindest zu versuchen, Leute zu respektieren und zu integrieren, selbst wenn oder gerade wenn man deren Ansichten nicht teilt. Denn beiderseitige eine weitere Abgrenzung und Ausgrenzung Isolation dieser Men- schen von Gruppen der Bevölkerung sei laut Jähne für uns alle kontra- produktiv. Man muss und wird auch nach der Pandemie mit Menschen, die in der Pandemie möglicherweise völlig andere Positionen besetzt haben, gut zusammenleben können, und zwar aus gutem Grund.

„Aber ob es wirklich gelingt, ist schwer vorherzusagen.“ Denn am Ende müsse von allen Seiten ein gewisses Entgegenkommen signalisiert werden, sonst verlaufen selbst die besten Absichten im Sande.