1465 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung hat das Polizeipräsidium Freiburg 2023 verzeichnet – davon 228 im Landkreis Waldshut und 331 im Landkreis Lörrach. „Besonders schwere Fälle sexualisierter Gewalt wurden von der Kriminalpolizei im selben Zeitraum im Kreis Waldshut 16, im Kreis Lörrach 37 verfolgt“, sagt Polizeipressesprecher Thorsten Stauch, „doch die Dunkelziffer bei Sexualdelikten ist hoch.“ Expertenschätzungen zufolge kommen sogar bis zu 90 Prozent der Fälle nie ans Licht.

Die große Mehrheit kennt den Täter persönlich

Einer der Gründe, warum betroffene Frauen schweigen: „Rund 80 Prozent kennen den Täter persönlich, jeder Dritte ist sogar der Partner oder Ex-Partner“, weiß Michael Bohlmann, Chefarzt des Zentrums für Gynäkologie und Geburtshilfe am St. Elisabethen-Krankenhaus in Lörrach.

Kliniken sichern Spuren vertraulich

Auch deshalb bietet die Klinik seit 2023 die vertrauliche Spurensicherung an. Bei Sexualdelikten besteht eine Strafverfolgungspflicht. Das heißt: sobald die Polizei davon weiß, muss sie dem Tatverdacht nachgehen. Die Anzeige kann nicht zurückgenommen werden. „Aber nicht jede Frau ist sofort bereit, Anzeige gegen den bekannten Täter zu stellen“, sagt Bohlmann, „wir sichern die Spuren vertraulich und lagern sie in der Rechtsmedizin der Uniklinik Freiburg ein.“

Auch das Waldshuter Spital bietet die vertrauliche Spurensicherung seit 2016 an. Sie wird ein- bis zweimal pro Jahr durchgeführt. Die Behandlung von Verletzungen und der Ausschluss von HIV- und sexuell übertragbaren Infektionen sowie ungewollter Schwangerschaften gehören zum Standardvorgehen bei Sexualdelikten.

Eleonore Gisy, Chefärztin der Gynäkologie am Klinikum Hochrhein in Waldshut.
Eleonore Gisy, Chefärztin der Gynäkologie am Klinikum Hochrhein in Waldshut. | Bild: Klinikum Hochrhein

Auf Nachfrage sagt Eleonore Gisy, Chefärztin der Gynäkologie am Klinikum Hochrhein: „Wenn Hinweise auf Gewalt sichtbar sind, frage ich relativ neutral: ‚Was ist passiert?‘“ Nur selten würden betroffene Patientinnen auf diese Frage hin nicht berichten, was ihnen angetan wurde.

Andere Mediziner sensibilisieren

Gisy und Bohlmann sind Profis im Umgang mit Opfern sexualisierter Gewalt. „Aber im Medizinstudium wird das kaum thematisiert“, so Bohlmann. Deshalb hatte er die Kreisärzteschaft Lörrach kürzlich zu einer Fortbildung zum Thema eingeladen – und über 50 Mediziner waren gekommen. Sein Plädoyer: „Wir müssen offene Augen haben und mutmaßlichen Opfern niedrigschwellige Anlaufstellen bieten!“

Michael Bohlmann, Chefarzt Zentrum für Gynäkologie und Geburtshilfe am St. Elisabethen-Krankenhaus in Lörrach.
Michael Bohlmann, Chefarzt Zentrum für Gynäkologie und Geburtshilfe am St. Elisabethen-Krankenhaus in Lörrach. | Bild: Sira Huwiler-Flamm

Hausärzte sind vom Wehwehchen bis zu größeren Beschwerden in der Regel die ersten Ansprechpartner. Doch zu selten würden diese Anzeichen für Gewalt erkannt. „Kein Kollege handelt böswillig“, sagt Bohlmann, „aber wir müssen uns die Zeit nehmen und uns trauen, Fragen zu stellen!“

Das sind Anzeichen für sexualisierte Gewalt

Bissverletzungen, Fesselspuren, Schürfungen und blaue Flecken – das alles können sichtbare Anzeichen für sexualisierte Gewalt an Frauen sein. Und mit eben solchen Bildern will Bohlmann an diesem Abend die Mediziner für das Thema sensibilisieren.

Als Referentinnen eingeladen hatte Bohlmann Juliane Geiger und Vivian Ernst von der Frauenberatungsstelle Lörrach, Annette Perschke und Carolin Throm vom Frauenhaus Lörrach sowie Vertreterinnen von Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft. „Weil die fachübergreifende Zusammenarbeit wichtig für die diagnostische Sicherung und Betreuung betroffener Frauen ist.“

Im Einsatz gegen sexualisierte Gewalt an Frauen (von links): Juliane Geiger und Vivian Ernst von der Frauenberatungsstelle Lörrach, der ...
Im Einsatz gegen sexualisierte Gewalt an Frauen (von links): Juliane Geiger und Vivian Ernst von der Frauenberatungsstelle Lörrach, der ehemalige Ärztliche Direktor am St. Elisabethen-Krankenhaus Hans-H. Osterhues und Gynäkologie-Chefarzt Michael Bohlmann, Carolin Throm und Annette Perschke vom Frauenhaus Lörrach. | Bild: Sira Huwiler-Flamm

Die Tatsache, dass der Partner, der oft der Täter ist, meist denselben Hausarzt besucht, mache die Hemmschwelle, das Geschehene anzusprechen, laut Annette Perschke vom Frauenhaus, größer. Sie leitet die Einrichtung in Lörrach seit 24 Jahren und sagt: „In all der Zeit wurde nur ein einziges Mal eine Frau von einem Arzt an unsere Schutzeinrichtung vermittelt.“

Appell an Ärzte: Lieber einmal zu oft nachfragen

Sie berichtet auch von einer Dame, die erzählte, nach Schlägen immer wieder bei ihrem Hausarzt vorstellig geworden zu sein. „Ich bin die Treppe runtergefallen“ habe sie bei Nachfragen geantwortet, und zwar mehrfach über Jahre hinweg.

Doch die Expertinnen von Frauenhaus und -beratungsstelle möchten die Ärzte an diesem Abend nicht anprangern, sondern ermutigen: „Lieber zu oft nachfragen. Das Gefühl, dass jemand aufmerksam ist, kann der Frau guttun und Mut geben, über das Erlebte zu sprechen“, sagt etwa Carolin Throm von der Frauenberatungsstelle, „als Hausärzte sind Sie Vertrauenspersonen!“

Schweigepflicht birgt Konflikte

In der anschließenden Diskussionsrunde wird auch thematisiert, dass Ärztinnen und Ärzte stetig mit dem Konflikt „Schweigepflicht wahren oder den Fall melden?“ konfrontiert sind. Die Staatsanwaltschaft Lörrach erklärt: „Wenn die betroffene Frau ab 14 Jahren der Meldung zustimmt oder wenn der Mediziner Leib und Leben in Gefahr sieht, darf ein Fall gemeldet werden.“

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Dass für Ärzte auch die Aussage vor Gericht im späteren Prozessverlauf belastende Herausforderungen mit sich bringen kann, davon berichtet eine anwesende Medizinerin, die vor einigen Jahren einen Fall zur Anzeige gebracht hat:

„Ich habe mich bei der Befragung selbst wie die Angeklagte gefühlt“, sagt sie und rät anderen Medizinern: „Dokumentieren Sie die Aussagen der Patientin so konkret wie möglich – zwei Jahre später, wenn der Prozess stattfindet, sind diese Aufschriebe eine enorm wichtige Gedankenstütze!“

Warum ist das Verhör so hart?

Das harte Verhör mit kritischen Nachfragen rechtfertigen Kripo und Staatsanwaltschaft mit der Unschuldsvermutung: „Weil oft Aussage gegen Aussage steht, müssen wir immer wieder nachhaken, wiederholte Aussagen mit älteren abgleichen und Fakten prüfen, damit niemand unschuldig verurteilt wird.“

Was jede Praxis tun kann, ohne Schweigepflicht und Persönlichkeitsrechte zu verletzen: Infobroschüren der Beratungsstellen und Schutzhäuser des jeweiligen Landkreises auslegen und an potenziell Betroffene verteilen.

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Hier finden Betroffene in der Region schnelle Hilfe

  • Beratung für Frauen: Im Kreis Waldshut bietet die Fachberatungsstelle Courage in Lauchringen Hilfe für Frauen bei häuslicher und sexualisierter Gewalt (www.frauenhaus-wt.de, Telefon: 07741/808 22 77, Mail: beratung@frauenhaus-wt.de), im Kreis Lörrach die Frauenberatungsstelle (www.frauenberatung-loerrach.de, Telefon: 07621/871 05, Mail: info@frauenberatung-loerrach.de).
  • Sofortiger Schutz für Frauen: In Situationen, in welchen Frauen und deren Kinder akut von Gewalt bedroht sind, bieten Frauenhäuser sofortigen Schutz: Im Kreis Waldshut ist das Notfall-Telefon des Frauen- und Kinderschutzhauses rund um die Uhr unter Telefon 07751/35 53 erreichbar, im Kreis Lörrach lautet die Notfallnummer 07621/49 325. Beratung und weitere Infos im Internet (www.fhf-loerrach.de). Betroffene Frauen, die die Region sofort verlassen möchten, finden im Internet (www.frauenhaus-suche.de) freie Frauenhaus-Plätze im gesamten Bundesgebiet.
  • Vertrauliche Spurensicherung: Beweissicherung ohne Polizeibeteiligung bieten das Klinikum Hochrhein in Waldshut (www.klinikum-hochrhein.de) und das St. Elisabethen-Krankenhaus in Lörrach (www.klinloe.de, gynäkologische Ambulanz unter Telefon 07621/171 42 20). DNS-Spuren, Fotodokumentationen und Gedächtnisprotokolle der Ärzte werden für eine mögliche spätere Anzeige vertraulich in der Rechtsmedizin der Uniklinik Freiburg verwahrt.
  • Weitere Kontakte: Hausärzte sind ebenfalls Ansprechpartner für Betroffene. Wer Anzeige erstatten möchte, wendet sich an die lokale Polizei (in Waldshut: 07751/8316-0, in Lörrach: 07621/176-0) oder füllt ein Online-Formular aus (https://portal.onlinewache.polizei.de). Wer sofort aus einer akuten Notlage befreit werden möchte, wählt die Notrufnummer 110 oder schreibt eine stille Nothilfe-SMS (Name, „Ich kann nicht sprechen“, Was ist passiert?, Adresse) an 01522/1807 110. Auch das bundesweite Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ ist rund um die Uhr unter Telefon 0800/116 016 in 17 Sprachen erreichbar.
  • Tipps für Angehörige: „Körperliche Verletzungen sind häufig nicht sichtbar oder vorhanden“, sagt Polizeipressesprecher Thorsten Stauch, „Verhaltensänderungen bei Betroffenen sollten das erste Warnsignal sein, an dem Nahestehende nachhaken sollten.“ Die Frauenberatungsstellen unterstützen auch Angehörige im Verdachtsfall.
  • Hilfe für potenzielle Täter: Unter dem Motto „Damit aus Gedanken keine Taten werden“ können sich „tatgeneigte“ Personen, wochentags von 9 und 18 Uhr unter Telefon 0800/702 2240 über therapeutische Hilfe informieren. Infos gibt es auch im Internet (www.bevor-was-passiert.de).
  • Arbeitskreis: Im Kreis Waldshut gibt es den „Arbeitskreis gegen häusliche Gewalt“, in dem sich Vertreter von Beratungsstellen, Sozialverbänden, Landkreis, Polizei und Staatsanwaltschaft in regelmäßigen Abständen zum fachlichen Austausch treffen.
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