Er träumte schon davon, in Europa groß rauszukommen, als Musiker oder Fußballer. Er wollte es schaffen, es denen zuhause zeigen. Dass auch er es zu was bringen kann. Weit weg von zuhause, weit weg von Nigeria.
Aber jetzt sind die Träume wohl zerplatzt. Sitzt der 26-Jährige doch auf der Anklagebank des Landgerichts Waldshut-Tiengen, mit Fesseln an den Füßen, die auch während der Verhandlung dranbleiben.
Hals nur um wenige Zentimeter verfehlt
Vorgeworfen wird ihm versuchter Totschlag. „I will kill you“ [deutsch: ‚Ich werde dich umbringen‘], soll er im April in der Asylunterkunft in Wehr gerufen haben. Und mit dem Messer auf einen Wachmann losgegangen sein. Und nur weil dieser den Stichen ausgewichen ist und sich mit dem Schlagstock gewehrt hat, lebe er noch, hieß es. „Der hat direkt auf meinen Hals gezielt, mich nur um wenige Zentimeter verfehlt. Der wollte mich abstechen“, sagte der Security-Mitarbeiter bei Prozessauftakt am Montag aus. Der Angeklagte aber meinte: „Ich habe nicht angegriffen, ich bin friedlich.“ Das „I will kill you“ sei nie über seine Lippen gekommen.
Zwei Sichtweisen, eine Wahrheit. Diese herauszufinden, ist jetzt Sache von Richter Martin Hauser – kein leichtes Unterfangen in einem Verfahren, in dem der Täter sich selbst als Opfer sieht und es wenig Zeugen für das Geschehen gibt. Möglicherweise sitzt da ein Mann auf der Anklagebank, der wegen Alkohol- und Drogenkonsum nur eingeschränkt schuldfähig ist.
Schon diesen zu befragen, gestaltete sich für Hauser schwierig. Mussten doch sämtliche Fragen und Antworten von einem Dolmetscher übersetzt werden, vom Deutschen ins Englische und zurück.
270 Männer und Frauen im Schlauchboot
Heraus kamen dabei die Konturen eines noch jungen, von Flucht geprägten Lebens. 1998 in Nigeria geboren, beschloss der Mann 18-jährig, nach Europa aufzubrechen. „Warum haben Sie das gemacht und so viele Gefahren und Strapazen auf sich genommen?“, wollte Hauser wissen. Die Antwort: „Das war es mir wert, kein Land in Afrika ist gut.“
Auf dem Land nach Libyen, dort in ein Schlauchboot gestiegen, angeblich 270 Männer und Frauen auf dem Trip übers Mittelmeer. Es gibt Tote an Bord, so die Schilderung. Ein Sturm kommt auf, das Boot steht vor dem Kentern -da kommt ein Seenotrettungsschiff – so sagte der Nigerianer aus – und bringt sie nach Italien.
Traum von der Karriere als Profikicker
Dort, auf Sizilien, lebt er sechs Jahre. Doch statt als Musiker oder Profikicker durchzustarten, schlägt er sich mit Aushilfsjobs in Restaurants und Supermärkten durch. Eine Tochter kommt 2019 zur Welt. Doch die Mutter will nichts mehr von ihm wissen, bricht den Kontakt zu ihm ab. Aus Angst, so hieß es.
2022 kommt er nach Deutschland. Richter Hauser kann nicht klären warum. Der Nigerianer landet in der Asylunterkunft in Wehr und lebt dort bis heute. Ihn nach Italien abzuschieben, scheitert. Sein Asylantrag wird abgelehnt. Verfolgt ist er ja auch nicht.
So lebt er in der Unterkunft in den Tag hinein, mache elektronische Musik auf dem Laptop. Wozu er auch mal einen Joint raucht. „Das beruhigt mich und das gibt mir Energie“, sagte er aus.
Immer wieder gibt es Ärger
Doch es gibt wohl immer mehr Ärger, mit Mitbewohnern und der Polizei. Dass er überall Salz verstreut – wohl ein Rat der Mutter – sorgt in der Unterkunft für Verwunderung. Angst kommt auf, weil er angekündigt haben soll, er wolle im Haus Feuer legen.
Er sagte aus, man habe ihn zu Sex zwingen wollen, ihn „nicht in Ruhe gelassen“. Die anderen sagen, er habe Angst und Schrecken verbreitet. Am Tag, als er zum Messer griff, soll er ein in der Unterkunft lebendes Kind geschlagen haben.
Im April eskaliert die Situation
Das stritt der Mann ab. Er habe „nie Probleme gemacht“, sei immer provoziert worden. So auch am Tag der Eskalation im April. Die Security habe ihn ohne Grund aufgefordert, von draußen ins Gebäude zu kommen – „reine Schikane“, wie er aussagte. Und: „Die wollten mich loswerden.“ Dass er zum Messer greift, schiebt er auf den Alkohol. Am Tag der Tat soll er sich schon morgens um 7 Uhr mit Bier und Gin betrunken haben.
Weil sich der trotz allem unverletzt bleibende Wachmann gegen den Nigerianer mit dem Schlagstock wehrt, wird der Angreifer selbst zum Opfer. Trägt eine blutende Kopfwunde davon. Wird zur Erstversorgung ins Klinikum Hochrhein gebracht. Im Rettungswagen ist er so aufgebracht, dass er fixiert werden muss.