Zwei Jahre ist es jetzt her, dass Alexej Nawalny in den Landkreis Waldshut kam. Ab Mitte Oktober 2020 hielt sich der russische Oppositionelle und Kremlkritiker mit seiner Familie in der Gemeinde Ibach auf, um sich von einem auf ihn verübten Giftanschlag zu erholen. „Damit hat er die Region ins Zentrum des Weltgeschehens gerückt“, erinnert sich der Waldshuter Landrat Martin Kistler an jene zwei Monate, in denen in dem 350-Seelen-Dorf wegen Nawalny Ausnahmezustand herrschte.
„Die Polizeipräsenz war enorm. Auf fünf Einwohner kam ein Polizist“, berichtet Helmut Kaiser. Der Ibacher Bürgermeister ist gemeinsam mit Martin Kistler und Fitnesstrainer Björn Leber in den St. Blasier Kursaal gekommen, um zwei Jahre danach von ihren damaligen Begegnungen und Gesprächen mit Alexej Nawalny zu erzählen. Dazu eingeladen hat der Verein Kino und Kultur, der an diesem Abend außerdem den 2022 veröffentlichten Dokumentarfilm „Nawalny“ zeigt.
Der Landrat erinnert sich in dem von Wolfgang Endres moderiertem Gespräch an den Moment, als die Nawalny-Maschinerie anlief. Der Polizeipräsident habe ihm mitgeteilt, dass eine damals noch nicht namentlich genannte Schutzperson in Ibach untergebracht werde.
„Erst in einem persönlichen Gespräch hat er gesagt, dass es Alexej Nawalny ist, der zur Erholung und Genesung kommt“, erklärt Kistler, der anschließend auf Bürgermeister Kaiser zugegangen sei. „Er hat die Hauptlast getragen“, fügt der Landrat hinzu.
Etwa 60 Polizisten kümmerten sich um die Sicherheit des prominenten Gasts aus Russland. „Das Rathaus war ein richtiger Taubenschlag“, erzählt Kaiser, der sich beim Betreten seines eigenen Büros habe ausweisen müssen.

Das Rathaus diente den Beamten als Einsatzzentrale. Alexej Nawalny und seine Frau Julija sowie die beiden Kinder Dasha und Zakhar waren in einer Ferienwohnung untergebracht.
Nawalny hat extremen Willen
Björn Leber hat mit Nawalny neun Wochen lang bis zu vier Mal pro Woche trainiert. Der 25-Jährige, der aus Bernau stammt und in Konstanz Sportwissenschaften studiert hat, hat den Kremlkritiker dabei als Mensch mit einem „extremen Willen“ kennengelernt.
Zu Beginn habe Navalny vor allem koordinative Probleme gehabt. „In diesem Bereich war er sehr angeschlagen“, erinnert er sich.

Das Attentat mit dem Nervengift Nowitschok und die anschließende Zeit im Koma hatten bei Nawalny deutliche Spuren hinterlassen. Um ihn wieder fit zu machen, hat Leber mit ihm Übungen in den Bereichen Koordination, Kraft, Ausdauer und Schnelligkeit absolviert.
Das Training hat sich offensichtlich ausgezahlt: Am Ende seines Aufenthalts hätten die Polizisten auf Fahrrädern Mühe gehabt, mit dem joggenden Nawalny mitzuhalten, verrät Helmut Kaiser.
Ein großer und unkomplizierter Mann
Martin Kistler hat den berühmten Gast erst nach einigen Wochen kennengelernt, wie er erzählt. „Ich wollte ihn nicht behelligen“, fügt er hinzu. Als es dann doch zu einem Treffen im Ibacher Rathaus kam, sei der Landrat „positiv überrascht“ gewesen. „Er ist ein großer Mann – deutlich größer als ich“, erinnert er sich an die erste Begegnung mit Nawalny. „Ich fand ihn völlig normal und unkompliziert.“
Hintergründe zum Fall Nawalny
Bei Kaffee und Kuchen, zubereitet von den Ibacher Landfrauen, habe man sich unterhalten. Kistler: „Nawalny war sehr interessiert an unseren politischen Strukturen.“ Schwierig sei es für ihn gewesen, die Verwaltungssprache ins Englische zu übersetzen und dem Russen zu erklären, was ein Landrat ist. „Ich habe ihm gesagt, dass ich ein District Governor bin. Ein besseres Wort fiel mir nicht ein“, erzählt Martin Kistler.
Großartiger Ort mit lahmer Datenleitung
Alexej Nawalny hat dem Landrat zufolge viele lobende Worte über seinen Aufenthalt in Ibach verloren. In seinem Eintrag ins Goldene Buch habe der Gast die Gemeinde unter anderem als „einen der großartigsten Orte der Welt“ bezeichnet.

Nur das Breitband habe er nicht so toll gefunden, schiebt der Landrat schmunzelnd hinterher und erntet dafür Gelächter von den Zuhörern im Kursaal. Der Landkreis Waldshut ist weiterhin vor allem im ländlichen Raum unterversorgt mit schnellen Datenleitungen. Nawalny hat unter anderem im Schwarzwald bei Recherchen mit seinem Team die mutmaßlichen Drahtzieher des Anschlages auf ihn ermittelt, wie im Dokumentarfilm über ihn zu sehen ist. Dafür war er auf zuverlässige Internet- und Mobilfunkverbindungen angewiesen.
Begeistert hat sich der russische Oppositionspolitiker laut Kistler über die Organisation seines Aufenthalts geäußert. „Er hat sich mehrmals entschuldigt, dass er Ibach so einen Aufwand bereitet hat“, fügt Helmut Kaiser hinzu. Bei einem weiteren Aufeinandertreffen mit dem Bürgermeister – Navalny war gerade joggen mit seiner Frau – habe der Russe betont, wie froh er sei, im Schwarzwald zu sein und dass er sich schon gut erholt habe.
Anfang Dezember 2020 kehrten die Nawalnys Ibach schließlich den Rücken. Im Film ist zu sehen, wie die Eltern Tochter Dasha, die in den USA studiert, zuvor zum Flughafen Kloten brachten. Im Januar 2021 flog Alexej Nawalny mit seiner Frau zurück nach Moskau, wo er unmittelbar nach der Landung am Flughafen verhaftet wurde. Über ihren Aufenthalt zwischen Dezember und Januar ist nichts bekannt.

Seine Rückkehr nach Russland sei auch Thema im Gespräch mit Bürgermeister Kaiser und Landrat Kistler gewesen. „Er hat gewusst, dass er festgenommen werden wird“, berichtet Kaiser. Allerdings habe Nawalny nur mit einer kurzen Haftstrafe gerechnet. Mittlerweile sitzt der heute 46-Jährige in einem Straflager mit besonders harten Bedingungen ein. Dem Kritiker von Präsident Putin drohen mehrere Jahre in Gefangenschaft.
Rückkehr in die Heimat
Natürlich habe Kaiser ihn gefragt, ob er nicht lieber in Deutschland bleiben will, erklärt der Bürgermeister und zitiert Nawalnys Antwort: „Russland ist meine Heimat. Dort bin ich geboren und aufgewachsen. Dort will ich etwas verändern.“ Zudem habe er seine Anhänger nicht enttäuschen wollen.
Auch Björn Leber hat mit dem studierten Juristen über dessen bevorstehende Rückkehr „in die Höhle des Löwen“, so Moderator Wolfgang Endres, gesprochen. „Hältst Du das für eine gute Idee“, habe Leber ihn auf Englisch gefragt. „Es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden“, habe Nawalny geantwortet. Leber spricht von einer Freundschaft, die sich im Laufe des neunwöchigen Trainings entwickelt habe. „Zum Abschied haben wir uns in den Arm genommen“, erzählt der Fitness-Coach.
Auch Helmut Kaiser denkt laut eigener Aussage noch häufig an den ehemals bekanntesten Feriengast seiner Gemeinde. „Man fühlt ein Stück weit mit“, sagt er mit Blick auf dessen Inhaftierung. Auf alle Fälle sei der Aufenthalt von Alexej Nawalny ein besonderes Erlebnis mit einem bleibenden Eindruck ins seiner beruflichen Laufbahn gewesen, verrät Kaiser, der seit 2009 ehrenamtlicher Bürgermeister von Ibach ist und bis Ende 2019 zudem 24 Jahre lang hauptamtlicher Bürgermeister von Dachsberg war.
Dieser Artikel erschien zuerst im Oktober 2022 im SÜDKURIER