Das war für uns alle unvorstellbar, gewissermaßen über Nacht machten alle Grenzen zu – Schengen war gestern, jetzt ist Corona. Am 16. März schloss auch der deutsch-schweizerische Schlagbaum. Für uns Grenzsiedler am Hochrhein war das ein Shutdown, wie ihn keiner seit dem Zweiten Weltkrieg kannte. Heute gehen die Grenzen wieder auf.
Aber was sich viele dabei fragen: Wird alles so sein wie vorher oder begegnen sich heute Menschen an der Grenze, die drei Monate Zeit hatten, um über deren Schließungen nachzudenken?
Gehen wir einen Schritt zurück in die Vor-Corona-Zeit: Da meinte zum Beispiel die Luzerner, es könnten gerne weniger ausländische Touristen die Stadt überrennen. Ende Februar wurde nämlich eine Studie der Hochschule Luzern vorgelegt, in der fast 80 Prozent der Luzerner ihre Abneigung gegen die Touristenströme äußerten. Also bitte weniger Touristen? Genau dieser Wunsch wurde der Stadt prompt erfüllt. Dabei leben in Luzern rund 1000 Menschen allein vom Gruppentourismus. In den Betrieben am Touri-Hotspot Schwanenplatz belief sich laut Neuer Zürcher Zeitung die Wertschöpfung auf 224 Millionen Franken jährlich. Und dann plötzlich Stillstand.
Nicht anders bei uns: Hier fehlt zwar die wissenschaftliche Datengrundlage zum Erregungsgrad über die Eidgenossen vor Corona. Dennoch gehört es quasi zum persönlichen Erfahrungshorizont, sich ab und an über Schweizer aufgeregt zu haben. Irgendwie fand man doch: Auch wenn sie Geld ins Land bringen (2019 waren es laut IHK 1,9 Milliarden zwischen Lörrach und Konstanz), könnten es doch gerne ein paar weniger sein. Deutsche und Schweizer – wie ähnlich wir uns doch sind.
Wir ärgerten uns über den Ausfuhrzettel, den die CH-Familie mit ihren drei vollen Einkaufswagen in aller Gemütsruhe anmahnt (insgesamt waren es 2019 im Zollbezirk Singen übrigens 33.000 Ausfuhrzettel). Und die Schweiz ärgerte sich ihrerseits über den großmäuligen Deutschen mit Kasernenhof-Ton. Es ist noch nicht allzulange her, dass Schweizer Medien über die Tatsache jubelten, dass seit langem erstmals wieder mehr italienische als deutsche Einwanderer in die Schweiz zogen. Kein Wunder, gelten wir doch als arrogant und besserwisserisch, und wir halten die Eidgenossen für bünzlig, langsam und kleinkarriert. Und dann kam Corona, und wir hatten plötzlich Ruhe voreinander. Wollten wir das wirklich so?
Deutsche und Schweizer, zwei Nationen, aber eine Sprache und ein Verhältnis, das mit jeder Menge Vorurteile überfrachtet ist.
Springen wir also wieder in die Gegenwart. Hat die Trennung uns eine klarere Sicht gebracht? Sagen wir so, zumindest hat es eine andere Dimension in unserem Verhältnis gezeigt, eine die bisher weniger Beachtung fand. Jenseits wirtschaftlicher Bezugspunkte wie Tourismus, Einkauf, Mehrwertsteuer, Arbeitsplätze, jenseits von alle dem trennenden, das gerne Schlagzeilen macht, standen plötzlich Menschen an den Grenzen, die sich sehen wollten, die befreundet sind, die sich lieben und Sehnsucht hatten. Aber da war der Zaun. Der trennte Freunde, Verwandte, Paare. Corona zeigte uns plötzlich Deutsche und Schweizer, die nicht ihre Differenzen kultivierten, sondern sich umarmen wollten. Es waren diese Menschen an Grenzzäunen, die das Bild vom Verhältnis zwischen unseren beiden Ländern in den letzte Wochen prägten.
Der Hochrhein ist eine Region mit Staatsgrenze. Dennoch hat er 360 Grad, denn jeder Halbkreis für sich ist nicht lebensfähig. Dass das in wirtschaftlicher Hinsicht so ist, wussten wir vor Corona schon. Dass aber auch Menschen 360 Grad fühlen und sie sehnlichst zurückwünschen, hat uns Corona in Erinnerung gerufen.