Andrea Reich-Just war 14 Jahre alt, als sie beschloss, kein Fleisch mehr zu essen. Es waren die 80er-Jahre, „vegetarisch“ war für viele noch ein Fremdwort, was irgendwo zwischen einem Haufen Salatblättern und Halbwahrheiten lag. Ihre Mutter war überfordert – anfangs gab es jeden Tag ein Ei in anderer Form, erzählt Reich-Just.
Heute lebt ihre Mutter selbst vegetarisch, auch die Schwester und Reich-Justs Kinder ernähren sich fleischlos. Außerhalb der Familie kenne sie aber nicht viele Vegetarier. Die Neugier sei daher groß gewesen, sie habe wissen wollen, was in der Region so läuft, ob es Gleichgesinnte gibt. Bereits vor zwölf Jahren gründete sie einen veganen Stammtisch, den sie diesen Sommer wiederbelebt hat: „Das ist einfach ein angenehmer gemeinsamer Nenner“ – und in ländlichen Gegenden noch immer die Ausnahme.
In Waldshut-Tiengen gibt es anstatt großer Plakate für die nächste vegane Neueröffnung eine kleine Annonce im Mitteilungsblatt: „Vegi-Hock, vegetarisch-veganer Stammtisch“. Das Thema ist hier noch nicht so sichtbar, die Veganer und Vegetarier eher leise und nicht bekannt – auch untereinander nicht. Bei Anna Burger ist die Freude über den neuen Begegnungsort groß: „Ich kenne nicht so viele Menschen, die auch vegetarisch oder sogar vegan leben. Da habe ich mich richtig gefreut, als ich die Anzeige gesehen habe.“
Von der Exotik zur Normalität
Burger isst seit ihrer Kindheit kein Fleisch. „Meine Mama war vegetarisch, mein Papa nicht. Wir durften essen, was wir wollten. Mit elf habe ich entschieden, auch kein Fleisch mehr zu essen.“ Seit 13 Jahren lebt sie sogar vegan, verzichtet auf jegliche tierische Produkte. Ihre Geschichte ähnelt der von Reich-Just: Beide erkannten jung, dass Fleisch essen bedeutet, Tiere zu essen – und entschieden sich dagegen. Burger spricht fast beiläufig davon, dass sie Vitamin B12 zusätzlich nimmt, das sonst nur in Fisch und Fleisch enthalten ist. Sie ist mit diesem Wissen aufgewachsen.
Reich-Just dagegen begann in einer Zeit, in der kaum jemand über Proteinquellen oder Supplementierung sprach: „Es gab die klassischen Drei: Fleisch, Beilage, Gemüse. Bei mir hat dann immer etwas gefehlt.“ Jahrelang habe sie einfach weggelassen, ohne zu ersetzen. Erst mit ihrer Schwangerschaft hätte sie sich intensiver mit Ernährung beschäftigt, absolvierte sogar eine Ausbildung zur Ernährungsberaterin und eignete sich das Wissen auf diesem Weg an.
Die Informationen, die noch in ihrer eigenen Jugend gefehlt hatten, konnte Reich-Just ihren eigenen Kindern von klein auf mitgeben. „Sogar meine Mutter habe ich angesteckt.“ Eier-Variationen gibt es jetzt keine mehr – auch nicht außerhalb ihrer vegetarischen Familie. Der Umgang mit Vegetariern habe sich normalisiert: Oft sei sie die Einzige in einer Gruppe, ein Problem sei das nicht: „Man nimmt es wahr, man organisiert mir etwas und fragt nicht großartig.“
Früher, noch vor 20 Jahren, sei das anders gewesen. Die Essgewohnheiten wurden zu einer harten Linie, die sich zwischen die Gesellschaft und einen selbst zog, erinnert sich Verena Winiger: „Man war ausgeschlossen, nicht mehr dabei“, und Joachim Grap fügt hinzu: „Das konnte ganz schön einsam werden.“
Veggie-Angebote sind noch Mangelware
Mit 17 nahm der gebürtige Berliner einen Job in einer Fleischfabrik an: „Ich konnte nicht arbeiten. Ich habe das einfach nicht ausgehalten.“ Als Kind aus der Hauptstadt hatte Grap auch in den 80er-Jahren zumindest zu einigen vegetarischen Lebensmitteln Zugang. Tofu hätte es gegeben, und einige vietnamesische Restaurants. Reich-Just lacht: „In Waldshut gab es das definitiv nicht.“
Heute sitzt sie mit einer Gruppe aus Veganern und Vegetariern in eben so einem vietnamesischen Restaurant, dem Mr. Bi, mitten in Waldshut. Doch nicht überall ist es so einfach wie in der asiatischen Küche und Waldshut ist nicht Freiburg oder Berlin, wo die Barista bei der Kaffeebestellung schon fragt: Hafer, Mandel, Kokos oder doch lieber Kuhmilch? Erst kürzlich sei sie wandern gewesen, erzählt Marlene Friedrich. Beim Einkehren in die Wirtschaft sei sie leer ausgegangen, nur einen Kaffee Schwarz hätte es gegeben. „Auf dem Dorf gibt‘s halt Pommes, Salat, und vielleicht Mal Käsespätzle“, meint auch Anna Burger.
Zuhause gestaltet sich der Alltag für Vegetarier und Veganer heute allerdings einfacher: Von Milchalternativen über Tofu bis zu veganem Fleischersatz – Supermärkte bieten alles, um mit Internet-Rezepten leckere und nährstoffreiche Gerichte zuzubereiten. Grap kocht gern mit Seitan – „und sein Curry ist super“, wirft Verena Winiger ein.
Stammtischdiskussion mal anders
Die Stimmung erinnert ein bisschen an ein Familienessen. Alle reden durcheinander, tauschen Tipps und Rezepte aus – und auch hier scheint sich Essen nicht so ganz von Politik trennen zu lassen. Joachim Grap findet, Ernährung, auch fleischlose, sollte in der Schule mehr thematisiert werden. Am Tisch fällt der Begriff „Speziesismus“, die unterschiedliche Behandlung von Tieren je nach Spezies. Alina Gießer fasst den komplizierten Begriff anschaulich zusammen: „Wenn ich die einen Tiere doch liebe, warum esse ich dann die anderen?“
Andrea Reich-Just findet Toleranz in diesen Fragen essenziell: „Ich möchte einfach leben und leben lassen. Jeder muss selbst verantworten, was er tut“, sagt sie und fügt hinzu: „Aber kritisieren oder aufdrängen geht gar nicht, man kann ja einfach interessiert nachfragen.“
Die Frage, wie viel Aktivismus Veganismus verträgt, ist mindestens so alt wie das Bild vom traurigen Salatblatt auf dem Teller. Essgewohnheiten, Rezepte und Debatten um Ethik beschäftigen Vegetarier schon seit Langem. Das Thema mag also nicht neu sein – dass diese Fragen jetzt auch wieder öffentlich in Waldshut diskutiert werden, aber schon.
Diese Restaurants im Kreis Waldshut setzen auf vegetarisches oder veganes Essen.