Im Tiengener Norden zwischen der Feldbergstraße und „An der Gipsmühle“ liegen heute die Quartiere „Neue Heimat“ und „Übertal“. Im Volksmund ist die „Neue Heimat“ noch immer als katholische Siedlung bekannt, erklärt Hubert Baumgartner, ein „Ur-Düengemer“. Als langjähriger Ministrant unter dem ehemaligen Stadtpfarrer Eugen Fürstos kramt er kurzerhand aus zahlreichen Artikeln, Büchern und Bildbänden über die Heimatgeschichte den Abschiedsgruß des Pfarrers hervor.

Dort heißt es: „Seit 1951 trage ich auch an verantwortlicher Stelle die Mitsorge um die Baugenossenschaft Neue Heimat im Landkreis Waldshut. 1949 entstand dieses Werk aus der Not der Zeit. Es ging um die Beheimatung der Menschen nach dem totalen Zusammenbruch und der Vertreibung am Ende des Zweiten Weltkriegs.“ So bekam das Quartier wohl auch seinen Namen, da die katholische Kirche im Quartier Beistand spendete und die heutige Baugenossenschaft Föfa Wohnraum bereitstellte für Aussiedler.

Aufgewachsen ist Hubert Baumgartner zwar in der Zeppelinstraße, doch 1977 verwirklichte er sich seinen Traum vom Eigenheim im Übertal. „Es standen schon einige Häuser hier oben, als wir gebaut haben. Doch es kamen viele weitere hinzu über die Jahre“, erklärt er. An eines der ersten Häuser hier oben kann er sich jedoch noch gut erinnern. „Als wir noch in der Zeppelinstraße gelebt haben, haben unsere Nachbarn eines der ersten Häuser in der Neuen Heimat gebaut. Als Nachbarskind hat man sie dann ab und zu beim Bauen gestört“, erinnert er sich schmunzelnd.

Während sich die Wolken draußen hartnäckig halten und sich die Temperaturen um die Null Grad bewegen, sitzen wir auf dem grünen Kachelofen im Zuhause von Hubert und Daniela Baumgartner. Wirft man einen Blick in den Garten, lässt sich dahinter die „Villa Gebhardt“ erahnen. „Damals war unser Grundstück ein Teil der Parkanlage, die zur Villa gehörte“, erzählt der gelernte Heizungstechniker. In den heutigen Garten der Baumgartners würde noch ein zweites Haus passen, dies lässt auch Rückschlüsse auf die damaligen Größenverhältnisse zu.

Nach dem Gründer der Gipswerke Gebhardt ist auch die Straße benannt, in der Hubert Baumgartner heute lebt. Einmal durch den Garten, liegt gegenüber noch eine Wiese, unbebaut, als „eines der letzten möglichen Bauplätze hier oben“ erwähnt der ehemalige Vorsitzende der Klettgauer Heimattracht. Gut zu erkennen ist das Bahnhofsgebäude, das Finanzamt und der Kirchturm der katholischen Pfarrkirche Maria Himmelfahrt. Heute sind mehrere Briefkästen am Gebäude befestigt – als Einfamilienhaus wird es somit nicht mehr genutzt.

Von der Albert-Gebhardt-Straße geht es in Richtung der Glockenbergstraße. Denn dort, wo sich heute Doppelhaushälften, Ein- und Mehrfamilienhäuser aneinanderreihen, stand früher die Gipsmühle. „Das Areal reichte von der Glockenbergstraße bis zum Friedhof in östlicher Richtung und der Bahnlinie im Süden. Die Fabrik war bestimmt 200 Meter lang und 100 Meter breit. Hinzu kamen viele Lagerräume in der Gegend“, berichtet Baumgartner. Heute erinnern nur noch die Straßennahmen „An der Gipsmühle“, „Albert-Gebhardt-Straße“ und „Glockenbergstraße“ an die vorhandene Industrie.

Eine Besonderheit, die zur Gipsmühle gehörte, war die über einen Kilometer lange Drahtseilbahn. „Das gewonnene Gipsgestein wurde vom Steinbruch an der Ripphalde bis zur Fabrik transportiert“, so Baumgartner. Und kurzerhand stimmt er eine lokale Strophe des „Badner-Lieds“ an, die an eine kuriose Situation erinnert. „In Düenge isch ne Gipsfabrik mit einer Drahtseilbahn. Woran man den Gendarmen im Walde hängen lassen kann“, singt er vor. So besingt die Strophe einen Polizisten, der vom Fabrikgelände aus die Drahtseilbahn zum Steinbruch nutzte.
Der Weg führt weiter entlang der Übertal-Straße. Auf der rechten Seite liegt der Glockenberg, wo ab den 1940er Jahren Gips im Untertagebau gefördert wurde. „Noch heute sieht man, wie sich das Gelände unnatürlich hebt und senkt. Wahrscheinlich kann vieles wegen den Stollen nicht bebaut werden“, mutmaßt er.
Weiter die 30er-Zone entlang geht es an neueren Gebäuden, jedoch auch Häusern aus den 60er Jahren vorbei. „Hier oben leben viele Familien, jedoch auch ältere Leute. Es ist eine bunte Mischung“, erzählt er beim Spaziergang. Außer vereinzeltem Vogelgezwitscher und dem typischen Baustellenlärm dringen keine Geräusche an uns heran. „Meine Frau und ich gehen täglich eine Stunde laufen. Tiengen bietet von dieser Seite sehr viel. Man kann in den Glockenbergwald, auf den Vitibuck oder das Tal. Das ist fußläufig alles gut zu erreichen“, sagt der 77-Jährige.

Einkaufsmöglichkeiten gebe es hier oben zwar keine, doch für den heutigen Rentner ist das kein Problem. Denn dann schwingt er sich auf sein Fahrrad und ist in wenigen Minuten in der Stadt unten. Mit dem Ende der Übertal-Straße beginnt die Kettelerstraße, die den Anfang der „Neuen Heimat“ kennzeichnet. Einzig und alleine das Umspannwerk, an der Feldbergstraße gelegen, könne für die Anwohner dort störend sein. Ansonsten fällt dem „Düengemer“ nichts negatives zu seinem Quartier ein, denn: „Wir wohnen in einer wunderbaren Gegend. Ich würde nirgends anders leben wollen.“
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