Herr Otte, was gab den Anstoß, warum sammeln Sie in Tiengen und Umgebung Müll, den andere weggeworfen haben?

Kurz vor der Corona-Zeit war ich mit dem Fahrrad in Tiengen das Tal rauf unterwegs und habe gesehen, wie viele Müllteile überall herumliegen. Das Gebiet rund um den Vitibuck ist der Ort meiner wunderschönen Kindheit. Es hat mir einfach weh getan, wie es dort aussah. Es ist wie so oft, wenn man erst einmal den Fokus auf etwas hat, sieht und findet man immer mehr. 2019 sammelte ich zwei Mal alleine Müll, 2020 war ich allein schon 19 Mal unterwegs, und 2021 dann 60 Mal. 2021 gab es eine große Aktion mit der Kolpingfamilie Tiengen. 2022 schlossen wir uns als Klettgau-Cleaners Tiengen den Klettgau-Cleaners von Rado Rábl in Erzingen an, die auch schon digital aufgestellt waren. Das ist heutzutage sehr wichtig. Insgesamt habe ich selbst über 150 Mal an über 150 Tagen gesammelt. Ich dokumentiere alle Einsätze und mache Bilder.

Ärgert es Sie nicht, wenn Sie sehen, was andere einfach in die Natur geschmissen haben?

Ja natürlich, aber ich war 40 Jahre lang Unternehmer und bin es gewohnt, zielorientiert zu handeln und anzupacken. Und es ist hinterher auch ein gutes Gefühl. Man ist stolz und zufrieden, wenn man die gefüllten Müllsäcke sieht und freut sich über ein sauberes Stück Land, über eine saubere Heimat. Müllsammeln macht durchaus auch Spaß, man findet ja auch lustige Sachen, und es ist für mich auch eine Demutsgeste.

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Was meinen Sie mit Demutsgeste?

Demutsgeste als Ausdruck einer bestimmten Haltung gegenüber der Schöpfung. Es kommt als Mensch darauf an, wie ich mich in der Schöpfung verordne. Ich finde, es ist wichtig, mich nicht als Herr über die Welt zu wähnen, als Chef und Ausbeuter der Schöpfung aufzuführen, sondern mich als Bewunderer und als einen Teil von ihr und einer großen Lebensgemeinschaft zu begreifen, zu der Menschen, Tiere, Pflanzen und die ganze Welt gehören, dann empfinde ich diese Demut. Müllsammeln ist eine Demutsgeste, die das asoziale Fehlverhalten von Mitmenschen mit dem eigenen Einsatz wieder gut zu machen versucht. Der biblische Spruch „macht euch die Erde untertan“ hatte vor 4000 Jahren seine Berechtigung, heute nicht mehr. Wir müssen alle mehr Diener der Schöpfung sein und nicht ihre Ausbeuter.

Andreas Otte spricht mit unserer Mitarbeiterin Ursula Freudig über seinen Einsatz gegen die Vermüllung der Landschaft.
Andreas Otte spricht mit unserer Mitarbeiterin Ursula Freudig über seinen Einsatz gegen die Vermüllung der Landschaft. | Bild: Sibylle Otte

Haben wir Ihrer Ansicht nach diese Demut größtenteils verloren?

Ja, ich denke schon. Es herrscht der Wirtschafts-Neo-Liberalismus, der alle Lebensbereiche auf das Ego und ökonomische Interessen hin ausrichtet. Beim Müllproblem kommt hinzu, dass der Mensch selektiv wahrnimmt. Wenn er immer wieder Müll sieht, gewöhnt er sich daran und irgendwann stört es ihn nicht mehr und er denkt bestenfalls noch, sollen sich doch andere darum kümmern. Nur wenn die Gesellschaft sich einig ist, dass sie Müll in der Landschaft nicht will, und jeder seinen Teil dazu beiträgt, kann es besser werden. Wir müssen uns bewusst machen, dass Vermüllung nicht nur unschön aussieht, sondern auch Schaden anrichtet, und dann weniger quasseln und mehr handeln.

Was für Schäden meinen Sie konkret?

Müll führt zu Vergiftungen und Verletzungen von Tieren. Glasscherben, auf die im Sommer die Sonne brennt, können Waldbrände verursachen. Müll, der liegen bleibt, belastet Böden und Gewässer. Durch Zersetzungsprozesse gelangen feinste Plastikpartikel in die Nahrungskette des Menschen. Mit dem Sammeln von Müll verschönern wir nicht nur die Landschaft, sondern leisten auch einen Beitrag zur Erhaltung unserer Lebensgrundlagen und die kommender Generationen.

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Wer sind Ihrer Ansicht nach die Hauptverantwortlichen für den vielen Müll in der Landschaft?

Das sind Menschen, die nicht in unserer Gesellschaft angekommen sind, die aus der Gesellschaft rausgefallen sind, Menschen, die mit sich und der Gesellschaft nicht klarkommen, und denen einfach aus verschiedenen Gründen Sozialverhalten fehlt.

Wo liegt denn überhaupt hauptsächlich Müll? Nicht alle Stellen sind gut zugänglich, oder?

Besonders wenn ich allein unterwegs bin, sammle ich auch an schwer zugänglichen Orten Müll, der dort oft schon länger liegt. Ich habe immer eine Gartenschere dabei, mit der ich mir Zugang zu Müll verschaffe, der beispielsweise tief in Gebüschen liegt. An steilen Böschungen liegt oft auch viel Müll, beispielsweise an der Bahnlinie, am Vitibuck und an der Waldböschung beim Tiengener Aldi Parkplatz, auf dem es nicht einen einzigen Mülleimer gibt. Wir säuberten dort schon öfters, aber es liegt immer wieder neuer Müll da. Viel Müll findet sich auch entlang der Bahngleise und an Rändern von stark befahrenen Verbindungsstraßen zwischen Tiengen und den Ortsteilen, und er liegt vermehrt rund um Geschäfte der To-go-Gastronomie. Auch private Grundstücke werden oft nicht sauber gehalten. Nahe bei Aldi ist zum Beispiel ein Müllberg auf einem eingezäunten Gelände. Ich verstehe nicht, warum der nicht wegkommt, obwohl ich mich schon an Behörden gewendet habe. Aber bis juristisch und verwaltungstechnisch alles passt, geht oftmals die Erreichung eines Ziels verloren. Ziel- und praxisorientiertes Arbeiten würde besser zum Erfolg führen.

Müssten Ihrer Ansicht nach Behörden und politische Entscheidungsträger aktiver gegen Vermüllung vorgehen?

Ja. Ich weiß, dass sie alle viele andere, wichtige Probleme haben. Dass diese Müllproblematik weit hinten rangiert, macht mich traurig. Die Schweiz macht einiges besser. Dort wird vor dem Mähen der Straßenränder der Müll aufgesammelt und es gibt Aufklärungsaktionen, auch in Form von großen Schildern, auf denen zum Beispiel steht: „Abfall tötet Tiere“. Wir wünschen uns auch bei uns ein größeres Engagement öffentlicher und staatlicher Institutionen. Einiges klappt ja auch gut. Zum Beispiel holt der Baubetriebshof immer die Müllsäcke ab, wenn ich sie nach dem Sammeln an einen geeigneten Ort stelle und es melde. Außerdem können wir im Mitteilungsblatt unsere Sammeltermine mit Anzeige bewerben.

Welche Maßnahmen könnten nach Überzeugung der Klettgau-Cleaners Tiengen die Müllproblematik entschärfen?

Die Strafen für illegale Müllentsorgung sollten deutlich erhöht werden. Singapur zum Beispiel soll sehr sauber sein. Müll einfach irgendwo wegwerfen kostet dort 1000 Dollar. Einmalartikel der To-Go-Gastronomie gehören hoch besteuert oder verboten und Pfand für Getränkeverpackungen deutlich angehoben. Ein Euro Pfand würde sicher viel zum Positiven ändern. Die Deutsche Bahn sollte gesetzlich verpflichtet werden, ihre Strecken sauber zu halten. Bei Mäharbeiten entlang der Straßen müsste immer jemand vor dem Mähfahrzeug gehen, um den vielen Müll aufzusammeln. Mähfahrzeuge zerschrettern Müll in gefährliche, oft scharfkantige und nicht mehr aufnehmbare Kleinteile, so werden Straßenränder zu Mülldeponien, wie es bei den Weltmeeren schon passiert ist. Was in Waldshut-Tiengen auch fehlt, sind moderne Mülleimer, die einen Ascher, einen Tütenspender für Hundekot und kleinere Öffnungen haben, so dass darin nicht sackweise Hausmüll entsorgt werden kann. Schulen könnten sich noch stärker mit dem Thema Umwelt und der Vermeidung und Beseitigung von Vermüllung befassen. Der Kontakt zu Schulen ist uns wichtig. Wir unterstützen Sammelaktionen von Klassen, und Rado Rábl hält Vorträge vor Klassen, und ich habe einen kurzen Film erstellen lassen, der in Klassen gezeigt werden kann.

Und was kann der Einzelne tun?

Wenn jeder an seiner privaten wie beruflichen Stelle ein bisschen mehr täte, hätten wir das Problem schon halb gelöst. Man kann auf Spaziergängen den Müll mitnehmen, den man sieht, oder man kann sich uns anschließen und bei kommenden Clean-Up-Aktionen mitmachen. Wir haben Clean-Up-Sets angeschafft, die man auch ausleihen kann. Dazu gehören Greifer, Eimer, Warnwesten, Handschuhe und Mülltüten.

Sind Sie zuversichtlich, dass wir das Müllproblem besser in den Griff bekommen werden?

Wenn wir in Sachen Umwelt bewusster werden, uns selbst zurücknehmen, die Politik die richtigen Weichen stellt und ehrenamtliches Engagement für die Umwelt noch größer wird, bin ich zuversichtlich. Es gibt schon viele verschiedene Umweltgruppen, die sich hoffentlich enger zusammenschließen werden und damit sicher mehr bewegen werden: BUND, Nabu, Klimenz hier in Tiengen, Fridays for future und viele andere.

Fragen: Ursula Freudig