Wehr Ganz Wehr war im Jahr 1950 auf den Beinen, um die Erhebung zur Stadt zu feiern. Auch der Erstklässler Willi Raiber nahm den Trubel mit Staunen zur Kenntnis. Aus dem Sechsjährigen ist ein anerkannter Künstler geworden, der sich sehr gut in die Perspektive eines Kindes hineinversetzen kann. Dank seiner Erinnerungen entstand ein ganz besonderer Bildband, der anlässlich des 75. Jubiläums der Stadterhebung neu herausgegeben wird. Keine Dokumentation, sondern ein „Freudichbuch“, wie Willi Raiber sagt.
In der Nachkriegszeit lebten die meisten Menschen in bescheidenen Verhältnissen, so auch die Familie Will Raibers, der in der Alten Mühle aufwuchs. Er musste früher als seine älteren Geschwister zu Bett gehen, und das dunkle Gebäude und einsame Schlafzimmer wirkten auf den Jungen unheimlich. Die Menschen waren damals noch nicht mit Bildern überflutet, und Reisen waren die große Ausnahme, also reiste der junge Willi Raiber auf den Flügeln der Fantasie in andere Welten.
Von dem Schlafzimmerfenster aus fiel sein Blick auf ein Plakat, das ein Segelboot zeigte und ihn zum Träumen anregte. Das Bild wurde lebendig, das Wasser strömte in das Schlafgemach der Alten Mühle, das Bett verwandelte sich in ein Boot und entführte den Jungen auf eine imaginäre Reise: Das Abenteuer beginnt.
Die Fähigkeit, die Fantasie weit schweifen zu lassen, verbindet Künstler und Kinder, und aus den Erinnerungen an seine Kindheitsträume hat der reife Künstler Willi Raiber eine ganze Reihe von Kunstbüchern mit Titeln wie „Das Bild“, „Die Alte Mühle“, „Das Grammophon“, „Das Zahlenhaus“, „Gold“ und schließlich „Das Stadtfest“ herausgegeben. Der sechste Band erschien bereits 2020, zum 70. Jubiläum der Stadterhebung, und wurde nun im großen Jubiläumsjahr neu aufgelegt. Es ist ein Buch, das gute Laune macht und ein Gegenmittel gegen schlechte Stimmungen.
Geschildert werden das Stadtfest 1950 und die Ereignisse drumherum aus der Perspektive eines sechsjährigen Jungen – Willi Raibers Alter Ego, das immer wieder auf den Seiten auftaucht. Der Leser wird von einem Reiseführer an die Hand genommen, nämlich dem „Stangeplärri“. Damals wurden Ankündigungen des Rathauses per Lautsprecher an die Bevölkerung weitergegeben, und der Mann, dessen Stimme den älteren Wehrern vertraut sein dürfte, taucht mit seinen Kommentaren immer wieder auf. Seine Worte sind auf Alemannisch wiedergegeben, die Beobachtungen des Kindes auf Schriftdeutsch.
Willi Raiber erinnert sich, wie er und seine Freunde fasziniert vor dem Schaufenster des Drogisten standen, denn er hatte etwas Schauriges zu bieten. In einer Wasserflasche befand sich ein Gliederpüppchen, das sich bewegte, wenn man per Pumpe den Druck in der Flasche erhöhte. Und weil die Flasche immer etwas schmutzig war, konnten (oder wollten) die Kinder den Trick nicht durchschauen. „Wir hatten einen Heidenrespekt vor dem Flaschengeist“, berichtet der Künstler. In dem Buch entkommt der Geist, und solange er in Freiheit ist, wird in der Stadt ununterbrochen gefeiert, so dass Willi Raiber den Band mit vielen heiteren Bildern vom Festreigen schmückte. Lebhaft erinnert er sich daran, dass zeitweise „keiner mee miteinander gschwätzt hätt“, denn gerade im Enkendorf, das schon immer einen eigenen Kopf hatte, waren nicht alle begeistert von der Stadterhebung.
Einige der im Buch porträtierten Persönlichkeiten wie der Maler Adolf Glattacker mit seiner wallenden Haarpracht oder Bürgermeister Eugen Schmidle mit dicker Hornbrille sind leicht wiederzuerkennen und humoristisch, aber niemals verletzend, dargestellt. Aber Prominenz war für den sechsjährigen „Zeitzeugen“ eh nicht wichtig. Auf dem Talschulplatz interessierte ihn nicht die Tribüne der Festredner, sondern der Festbaum mit den Würsten und Süßigkeiten. Von den Ehrengästen sind nur die Beine zu sehen – das Buch ist konsequent aus der Perspektive eines Sechsjährigen gemalt.
Und so entstand ein Erinnerungsbuch, eine Hommage an die Kindheit und vor allem ein heiterer und unmittelbar ansprechender Kunstband, der in einer Auflage von 100 Stück gedruckt wurde und für 30 Euro in den Buchhandlungen Volk in Wehr und Merkel in Rheinfelden zu kaufen ist.