Svitlana Strashniuk zeigt auf ihrem Handy Bilder. Es sind Bilder aus der Silvesternacht. Bilder von Freunden, die mit Sektgläsern anstoßen und lachen. Es sind Bilder auf dem Kiewer St.-Sophia-Platz vor einem riesigen beleuchteten Weihnachtsbaum.

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Keine drei Monate später rollen Panzer durch ihre Heimatstadt, Raketen zerstören Wohnhäuser, Zivilisten verstecken sich in U-Bahn-Schächten. Die Arbeitskollegen, die auf den Bildern in die Kamera lächeln, sind entweder noch vor Ort oder in Europa verteilt. Die Bilder wirken wie aus einer anderen Zeit. Sie lächelt beim Anblick der Bilder.

Hilfe kam aus dem 1600 Kilometer entfernten Wehr

Jetzt sitzt sie hier in Wehr, in der Kantine der Firma Rota Yokogawa, zusammen mit ihrer Nichte Yelizaveta Nikula über 1600 Kilometer Luftlinie vom alten Leben entfernt und erzählt in gutem Englisch von der Flucht. „Es ist schwer, in dieser Situation etwas Gutes zu finden“, sagt Svitlana Strashniuk. Doch Yokogawa war die Rettung. Schon in Kiew arbeitete sie für eine Niederlassung der Wehrer Firma. Die Kollegen, die sie schon seit Jahren kennt, boten ihr und ihrer Familie ohne zu zögern Hilfe an. Dass sie die Kollegen jetzt das erste Mal persönlich trifft, freut sie. Doch die Umstände trüben die Freude.

In der Nähe von Kiew rollt ein Panzer am Auto der Familie vorbei.
In der Nähe von Kiew rollt ein Panzer am Auto der Familie vorbei. | Bild: Yelizaveta Nikula

Die Flucht von einem Tag auf den anderen

Über zwei Monate ist es nun her, dass die beiden von einem Tag auf den anderen ihre Sachen packen mussten. Schon Tage vor Beginn der großflächigen russischen Angriffe auf die Ukraine meinte Yelizaveta Nikulas Vater, ein ukrainischer Soldat, dass sie eine Notfalltasche packen solle. Doch wie viele Ukrainer hatte auch sie nicht so recht daran glauben wollen. „Es war 5 Uhr in der Nacht, als mein Vater anrief und sagte: der Krieg hat begonnen, ihr habt eine halbe Stunde, um rauszukommen“, erzählt Yelizaveta Nikula.

Vor der ukrainisch-moldawischen Grenze stauen sich die Autos. Die zwei Familien hatten aber Glück: an anderen Grenzübergängen sei viel ...
Vor der ukrainisch-moldawischen Grenze stauen sich die Autos. Die zwei Familien hatten aber Glück: an anderen Grenzübergängen sei viel mehr los gewesen. | Bild: Yelizaveta Nikula

Ihre Tante Svitlana Strashniuk folgte einen Tag darauf mit ihren zwei Kindern: „Ich habe geplant, in Kiew zu bleiben und nicht zu fliehen. Aber jedes Mal, wenn du die Sirenen hörst, denkst du an die Kinder und ihre Sicherheit. Es war eine plötzliche Entscheidung, Kiew zu verlassen“, erzählt sie. Im Kiewer Umland trafen sie sich dann mit Yelizaveta Nikula, ihren beiden jüngeren Geschwistern und ihrer Mutter. Yelizavetas Vater und Svitlanas Mann mussten in der Ukraine bleiben.

Der Kontakt zu den Kollegen in Deutschland

Über Moldawien, wo sie eine Woche verbrachten, flohen die beiden Familien nach Rumänien. Das finale Ziel war zunächst aber nicht der Hochrhein, wie die junge Yelizaveta Nikula erzählt: „Wir waren auf dem Weg nach Polen. Wir kannten ein kleines Hüttendorf für Flüchtlinge, wo wir einen Platz gefunden haben. Aber auf dem Weg, als wir in Rumänien waren, haben sie uns angerufen und gesagt, dass sie uns nicht aufnehmen können, weil alles voll ist. Also waren wir in Rumänien und wussten nicht, was wir machen sollen.“

Svitlana Strashniuk kam die zündende Idee: Da sie bei einem Standort der Firma Yokogawa in Kiew arbeitet, kontaktierte sie kurzerhand einen Kollegen aus Wehr, den sie aus der Ferne schon über Jahre kennt. Dieser habe sofort gesagt, dass sie kommen sollen – den Rest könne man klären. Durch ihren Job im Sales-Support hat sie regelmäßig Kontakt mit Kollegen aus aller Welt, die ebenfalls bei Yokogawa arbeiten.

Ohne zu überlegen

Auch der Geschäftsführer von Rota Yokogawa, Frank Schramm, erklärt am Tisch mit den beiden Frauen: Er habe keine Sekunde überlegen musste, als es darum ging, zu helfen. „Gerade in so einer speziellen Situation. Ich bin mir sicher, dass andere das auch gemacht hätten, wenn wir eine solche Situation hätten“, sagt er.

Frank Schramm, Geschäftsführer der Firma Rota Yokogawa in Wehr, unterstützt mit seiner Firma zwei geflüchtete Familien aus der Ukraine.
Frank Schramm, Geschäftsführer der Firma Rota Yokogawa in Wehr, unterstützt mit seiner Firma zwei geflüchtete Familien aus der Ukraine. | Bild: Esteban Waid

Während Schramm und die Kollegen begannen, Wohnraum und andere wichtige Dinge in Wehr zu organisieren, startete für die beiden Ukrainerinnen und ihre Familien eine sechstägige Reise durch Osteuropa. Am Ende führte Sie der Weg von der Ukraine über Moldawien nach Rumänien, von dort nach Österreich, über Deutschland in die Schweiz und schließlich nach Wehr. 3000 Kilometer seien es schließlich gewesen, die sie insgesamt zurücklegten. Immer in Kontakt mit den Kollegen von Rota Yokogawa.

Kinder, Haustiere und ein platter Reifen

Es war eine Reise, die nicht ganz ohne Hindernisse ablief. Mit vier Kindern, zwei Hunden, einer Katze und einer Menge Gepäck waren die drei Frauen in zwei Autos unterwegs, als das Auto mit dem Yelizaveta Nikula fuhr, in Rumänien einen Platten hatte. Erst mit der Hilfe durch andere Menschen konnten sie irgendwann weiterfahren. Für Yelizaveta Nikula sei das hart gewesen: „Ich habe erst meinen Führerschein bekommen.“

Ein Flüchtlingscamp in Rumänien.
Ein Flüchtlingscamp in Rumänien. | Bild: Yelizaveta Nikula

Auch Svitlana Strashniuk hat nicht viel Erfahrung beim Autofahren. Trotzdem meisterten sie den Weg, der sie auch über verschneite Gebirgspässe führte. „Es war sehr kalt, aber wir mussten im Auto frieren, um Benzin zu sparen“, erzählt Yelizaveta Nikula.

So etwas wie Alltag

Die Reise und auch die Ankunft sind mittlerweile schon ein paar Wochen her. Darüber zu sprechen fällt den beiden aber nicht immer leicht. Von der Ankunft bleibt Yelizaveta Nikula aber besonders ein Gedanke in Erinnerung: „Ich wollte einfach in einem Bett schlafen. Weil die Nächte davor schliefen wir im Auto. Und ich erinnere mich, dass mein größter Traum war, zu schlafen.“

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Nun müssen sie nicht mehr im Auto schlafen und haben sogar so etwas wie einen Alltag. Die Kinder haben immer noch jeden Tag Online-Unterricht mit Lehrern, die die sie aus Kiew weiter unterrichten. „Auch meine ältere Tochter hat Online-Unterricht. Wir lernen also den ganzen Tag“, so Svitlana Strashniuk.

Nicht immer mussten die Familien die Nacht im Auto verbringen. Hier wurde ein Restaurant in ein Hostel umgewandelt.
Nicht immer mussten die Familien die Nacht im Auto verbringen. Hier wurde ein Restaurant in ein Hostel umgewandelt. | Bild: Yelizaveta Nikula

Die Routine und auch die Zeit helfen, das Erlebte zu verarbeiten, wie Yelizaveta Nikula erklärt: „Es wird besser, als noch vor ein paar Wochen. Wir haben einige Dinge akzeptiert. Wir sind froh, dass uns viele Leute helfen, das haben wir nicht erwartet.“

Die Frage, wann es wieder zurückgeht

Vergessen lässt sich das Ganze verständlicherweise nicht. „Jeden Tag, jede Stunde“, antwortet Yelizaveta Nikula auf die Frage, ob sie noch die Nachrichten verfolge. Täglich stehen beide auch in Kontakt mit Angehörigen und Kollegen, die noch in der Ukraine oder im Rest von Europa verteilt sind. Sichtlich zu schaffen macht den beiden aber die Ungewissheit, ob und wann sie wieder zurück in ihre Heimat können: „Wir wollen uns hier ein Leben aufbauen, aber natürlich wollen wir wieder zurück“, so Yelizaveta Nikula. Keiner wisse aber, wie langer der Konflikt noch gehen wird.

Yelizaveta Nikula (links) und Svitlana Strashniuk (rechts) sind aus der ukrainischen Hauptstadt Kiew geflohen und haben dank der Firma ...
Yelizaveta Nikula (links) und Svitlana Strashniuk (rechts) sind aus der ukrainischen Hauptstadt Kiew geflohen und haben dank der Firma Rota Yokogawa eine Zuflucht in Wehr gefunden. Geschäftsführer Frank Schramm (Mitte) und seine Kolleginnen und Kollegen helfen, wo sie können. | Bild: Esteban Waid

Hier haben sie nun kleine Ziele vor sich. Beide dürfen wohl künftig bei Rota Yokogwa arbeiten – Svitlana Strashniuk kennt sich schon aus der Ukraine mit dem firmeneigenen System aus und Yelizaveta Nikula führt Gespräche mit der IT-Abteilung. Auch Deutschlernen steht auf der kleinen Liste. Aber weiter wollen die beiden nicht in die Zukunft schauen.

Die Ruhe in der Region

Unterstützung fast jeder Art haben die beiden von der Firma, wie Geschäftsführer Schramm deutlich macht: „Jeder kann ein Problem haben und wenn wir uns nicht um die Menschen kümmern, dann haben wir keine gute Gemeinschaft.“ Bei Problemen können sie sich jederzeit an die Kollegen wenden.

Svitlana Strashniuk weiß das zu schätzen: „Nicht jedes internationale Unternehmen unterstützt seine Mitarbeiter vor Ort.“ Und besonders ein Aspekt scheint ihr an der Region zu gefallen. Die Ruhe. In ihrer Heimatstadt, der Drei-Millionen-Stadt Kiew werde es nie leise, egal ob Tag oder Nacht. „Ich bin diese Ruhe gar nicht gewohnt“, sagt sie. Auch wenn die Umstände hart zu akzeptieren sind, durch die Ruhe sei es ein wenig wie Urlaub.

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