Die Türen und Fenster des Amtsdienerhäuschens schräg hinter dem Kornhaus sind im Normalfall geschlossen. Das historische Gebäude steht leer. Aber nicht an diesem Nachmittag. Auf den Treppenstufen vor dem Haus proben junge Laienschauspieler Dialoge aus dem weltbekannten Roman „Momo“ von Michael Ende. Es sind Schüler des Singener Friedrich-Wöhler-Gymnasiums, die Mitglieder der Schul-Theatergruppen „Tactlos“ und „Theatäter“ sind. Gerade findet an der Schule die Projektwoche statt und die nutzen die Theaterleute für ganz besondere Proben. Denn am 23. September sind sie Teil der Kunstaktion Engener Equinox, die nach über zehn Jahren eine zweite Auflage bekommt.
Isabella David, Xenia Bausch und Lera Gerber spielen mit Meister Hora, Momo und der Schildkröte Kassiopeia die Hauptrollen in dem Stück, das an verschiedenen Orten mit einigen ausgewählten Szenen gespielt werden soll. Anweisungen und Tipps für ihr Schauspiel bekommen sie von Maria Vrijdaghs und Nicola Fritsch, die die Theatergruppen leiten. Zusammen mit den übrigen Schülern verfolgt Manfred Müller-Harter das Probengeschehen. Er ist der Initiator und Koordinator der Engener Equinox II.
Equinox hätte schon 2021 stattfinden sollen
2012 ließ die erste Equinox-Veranstaltung die Engener Altstadt in spektakulären Lichtinstallationen erscheinen. Die Resonanz des Publikums aus der ganzen Region war groß. Schon damals sei eine zweite Auflage angedacht gewesen, beschreibt Müller-Harter im Gespräch am Rande der Proben. Ursprünglich sei die für 2021 vorgesehen gewesen. Doch dann kam die Pandemie. Und mit dem Einschlafen des Kulturbetriebs schwand auch die Hoffnung auf ein zweites Engener Equinox, erzählt Künstler Müller-Harter. Schließlich sei es Bürgermeister Johannes Moser gewesen, der einen erneuten Anstoß dafür gegeben habe.

„Ich wollte keinen Aufguss vom Alten machen, sondern lieber etwas Anderes in den Mittelpunkt stellen“, sagt Müller-Harter mit Blick auf die damaligen Licht-Installationen. Und auf etwas ganz Anderes dürfen sich die Besucher in diesem September freuen. Musikalische, tänzerische und schauspielerische Nachtszenen werden an ganz verschiedenen Orten überall in der Altstadt zu sehen sein.
Realität und Schauspiel verschwimmen ineinander
„Die Leerstände in der Altstadt werden thematisiert“, beschreibt Manfred Müller-Harter seine neue Idee. Dafür soll in vermeintlich leeren Schaufenstern auf einmal szenisches Leben zu sehen sein. In der Dämmerung sollen wirkliches Leben hinter den Altstadtfenstern und Schauspiel in den Schaufenster ineinander verschwimmen. So spielt das Licht doch wieder ein zentrale Rolle.

Für die verschiedenen Spielorte hat Müller-Harter professionelle Regisseure gewinnen können, welche die einzelnen Gruppen betreuen. Spielen werden Profis ebenso wie Laien. „Wir haben einen guten Mix“, findet Müller-Harter auch in Bezug auf die Mischung aus Theater, Tanztheater und Kunstaktionen. Die Besucher würden teilweise zu Voyeuren, also Beobachtern, von Szenen, die völlig zufällig erscheinen.
Niemand kann alle Szenen sehen
Eine besondere Herausforderung sei es, die Nachtszenen so anzuordnen, dass sie sich nicht gegenseitig stören, verrät Müller-Harter. Deshalb gleicht Equinox II einer Schnitzeljagd quer durch die Altstadt. Die Szenen werden zu unterschiedlichen Zeiten wiederholt, so dass sich die Besucher treiben lassen könnten und Zeit fänden, untereinander ins Gespräch über gerade Gesehenes zu kommen. Jetzt kommt das große Aber: Es wird definitiv nicht möglich sein, alle Szenen an diesem Abend gesehen zu haben, verrät der Künstler. So werde das Erlebnis eines jeden Besuchers ganz individuell.