Das Wort Sorge hat eine interessante Doppelbedeutung: Es beschreibt einerseits ein bedrückendes Gefühl der Unruhe und der Angst. Als Sorge wird aber auch das Bemühen eines Menschen begriffen, der sich um das Wohlergehen eines anderen kümmert. Sorge ist somit nicht nur ein unangenehmer Gemütszustand, sondern gleichzeitig auch die Lösung des Problems. Beide Ausrichtungen der Sorge waren auch in Maria Hensler als treibender Motor vereint, als sie vor genau 20 Jahren in Horn den Nachbarschaftsverein „Hilfe von Haus zu Haus“ gründete.

Es war die Sorge darüber, wer sich in den Dörfern nach dem Rückzug der Ordensschwestern um die alten Menschen kümmert, während gleichzeitig die entstehenden Sozialstationen durch die Pflegeversicherung in enge Korsetts gesteckt wurden. Im Grunde wurde die Sorge mit dem Aufbau einer sorgenden Gemeinschaft angegangen – mit Erfolg: Seit der Gründung des Vereins hat sich die Anzahl der Mitglieder auf 500 verzehnfacht. Und mehr als 100 Helfer kümmern sich im Verein um 100 Klienten auf der Höri. Aber der Verein schlug auch noch weitere Wellen: Das Konzept, das in Horn entstand, wurde in Baden-Württemberg von über 70 Kommunen kopiert.

Wie kam es zur Nachbarschaftshilfe?

Seit 40 Jahren bietet Maria Hensler Fortbildungskurse für pflegende Angehörige an. Als die Sozialstation auf sie zukam, den Kurs landkreisweit anzubieten, entstand aus den positiven Rückmeldungen die Idee einer Nachbarschaftshilfe. Maria Hensler berichtet von einer Ehefrau, deren Mann plötzlich bettlägerig wurde, und wie Kursteilnehmer mit dem neuen Wissen die Frau tatkräftig unterstützt hatten.

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Daraus sei die Idee entstanden, Strukturen zu schaffen, bei denen sich Betroffene melden können und von Bürgern im Dorf unterstützt werden. Bei den Altennachmittagen machte Maria Hensler eine weitere Beobachtung. Mit dem Aufkommen der Sozialstationen sei bei den Bürgern der Eindruck entstanden, dass man sich um ältere Menschen nicht mehr kümmern bräuchte. Doch dieses Kümmern erachtet Marie Hensler weiterhin als wichtig. Damit werde das Netzwerk im Dorf erst richtig zum Leben erweckt.

Krisen gleich zu Beginn

Gemeinsam mit Gertrud Staudenmeier und Monika Engelmann entwarf sie die Nachbarschaftshilfe in Horn. Doch zur selben Zeit erkrankte der Ehemann von Maria Hensler an Demenz. Auch ihre Mutter erlitt einen Schlaganfall. Von jetzt auf nachher gehörte Maria Hensler selbst zur Gruppe der pflegenden Angehörigen.

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„Wenn ich keine sieben Kinder gehabt hätte, dann hätte ich nicht gewusst, wie ich das hinbekommen soll“, erzählt Maria Hensler. Und: „Hätte es keinen Zusammenhalt in der Familie gegeben, dann wäre es ganz schlimm für mich gewesen.“ Hensler wurde sowohl von ihrer Familie unterstützt, wie auch von Frauen der sich parallel aufbauenden Nachbarschaftshilfe.

Viele Hindernisse beim Aufbau

Anfangs habe es viele Hindernisse beim Aufbau des Vereins gegeben, wie zum Beispiel bei der Frage nach der Versicherung der Ehrenamtlichen und der Vergütungen der Leistungen. Weder das Amtsgericht noch das Finanzamt seien hilfreich gewesen, ganz im Gegenteil. Dort habe es nur geheißen: So gehe das nicht. Auch bei den Kirchen musste sich Maria Hensler mit ihrer Idee anfänglich durchsetzen, erinnert sie sich.

Die ehemalige Geschäftsführerin Cindy Fünfschilling lernt aktuell ihre Nachfolgerin Christine Martin in die Nachbarschaftshilfe von Haus ...
Die ehemalige Geschäftsführerin Cindy Fünfschilling lernt aktuell ihre Nachfolgerin Christine Martin in die Nachbarschaftshilfe von Haus zu Haus ein. | Bild: Georg Lange

Nun unterstützen die Höri-Gemeinden und die Kirchen die Nachbarschaftshilfe sowohl politisch wie auch finanziell. Auch vom Land gab es Unterstützung. Der Verein wurde vier Jahre lang als innovative Maßnahme für Frauen im ländlichen Raum vom Landwirtschaftsministerium mit einem Startergeld unterstützt. Hilfreich war auch die Vereinigung der 70 Nachbarschaftshilfen im Land, die nach dem Gaienhofener Modell neu gegründet wurden, zu einem Netzwerk. Es machte sie unabhängig von den Wohlfahrtsverbänden und verleihe ihnen eine eigene Stimme.

Schwere Zeiten 2017 und 2018

Das Pflegestärkungsgesetz II und das Datenschutzgesetz brachten für die Nachbarschaftshilfe einen immensen bürokratischen Aufwand. Seit 2017 erhalten alle Pflegebedürftige einen gleichberechtigten Zugang zu den Leistungen der Pflegeversicherung. Ein Jahr später wurde auch das Datenschutzgesetz geändert. Zur selben Zeit seien Leistungen des Vereins von der Berufsgenossenschaft Gesundheit und Wohlfahrtspflege angefochten worden, sagt Hensler.

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„Als hätten sich alle miteinander angesteckt“, beschreibt Maria Hensler die Krisenzeit 2017 und 2018 für den Verein. Seit dieser Zeit werde nur noch die Begleitung und Betreuung der Klienten von Pflegekassen mit einem Pauschalbetrag übernommen. Hauswirtschaftliche Dienste dürften nur von dafür zuständigen Dienstleistern erbracht werden. Und die Vergütung pro Einsatzstunde müsse unterhalb des Mindestlohns liegen.

Krisen erweisen sich als Frischzellenkur

Neben diesen Krisen hat der Verein auch die Corona-Pandemie erfolgreich überstanden. Letztlich erwiesen sich die Krisen nicht als Daumenschrauben, sondern als ein Erneuerungsmotor und als eine Frischzellenkur. Die Anzahl der Mitglieder wächst stetig. Die meisten sind Frauen, doch der Anteil männlicher Ehrenamtlicher stieg inzwischen auf über zehn Prozent.

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Im Herbst startet ein neuer Kurs für pflegende Angehörige sowie für die ehrenamtlichen Helfern im Verein. Dort werden an 18 Abenden die Grundlagen für häusliche Pflege und Ernährung im Alter aber auch Kenntnisse über Alterspsychologie, Demenz, Sterbebegleitung und Trauer vermittelt. Erste-Hilfe-Kurse führen in die richtige Abfolge von Rettungsmaßnahmen ein. Zusätzlich entwickelt die Hilfe von Haus zu Haus Kurse für Angehörige von Dementen. Auch nach 20 Jahren geht die Arbeit, um gut füreinander sorgen zu können, nicht aus.