In einer Nacht im vergangenen Oktober werden zwei Polizisten zu einem Streit in der Schwarzwaldstraße in Singen alarmiert. Vor Ort stellen sie fest: Die Stimmung ist aggressiv, zwei Jugendliche sind laut, ein weiterer Jugendlicher ist ruhiger und hat Blut auf dem T-Shirt. Die beiden Beamten steigen aus, um die Personalien der drei zu kontrollieren. Dann eskaliert die Situation.
Einer der drei, ein 19-jähriger Mooser, entfernt sich telefonierend vom Geschehen. Als ein Polizist ihn auffordert, stehen zu bleiben, dreht dieser sich mit geballten Fäusten um und geht auf den Beamten zu – bis sie Brust an Brust stehen. Der Polizist schubst den 19-Jährigen erst per Bodycheck und nach erneuter Annäherung per Hand gegen den Hals weg.
19-Jähriger ballt Fäuste, Polizist zieht Schlagstock
Dann erhebt der Jugendliche seine geballten Fäuste, reist die Augen weit auf und kommt erneut schreiend auf den Polizisten zu. Der zieht zur Abwehr seinen Schlagstock. Am Ende bringen hinzugekommene Kollegen den 19-Jährigen zu Boden und legen ihm Handschellen an, während er sich weiter wehrt.
So schildern Staatsanwaltschaft, zwei Polizisten und der Anwalt des 19-Jährigen den Vorfall relativ ähnlich wenige Monate später vor dem Amtsgericht Radolfzell. Dort ist der junge Mann angeklagt nach Paragraf 113 des Strafgesetzbuches wegen Widerstands gegen sowie nach Paragraf 114 wegen tätlichen Angriffs auf Polizeibeamte.
Die Polizisten beschreiben die Situation vor Gericht als „aufgeregt und extrem aggressiv“. Einer von ihnen habe sogar zum ersten Mal in seiner Karriere per Notruffunk Verstärkung angefordert. Dabei werden alle anderen Funksprüche blockiert, Polizisten nutzen das sehr selten. Der Angegriffene selbst sagt aus: „Wenn einer nur droht, ziehe ich meinen Schlagstock nicht. Ich dachte, gleich schlägt er mich.“
Der Fall scheint eindeutig. Doch so einfach ist es nicht. Denn der erst 2017 eingeführte Paragraf 114 des Strafgesetzbuches, der den tätlichen Angriff auf Vollstreckungsbeamte regelt, hat seine Tücken – und ist unter Juristen umstritten, wie in der Verhandlung deutlich wird.
Richterin kritisiert Paragraf 114 deutlich
Der Anwalt des Angeklagten räumt zwar die ersten beiden Anklagepunkte ein. Den tätlichen Angriff auf die Polizisten, der sich vor allem auf das zweite Annähern mit erhobenen Fäusten bezieht, streitet er jedoch ab. Es habe keine bewusste und vorsätzliche Schlagabsicht gegen den Körper des Polizisten gegeben, was für den tätlichen Angriff aber Voraussetzung ist. Der Verteidiger spricht nur von einer Drohung und kritisiert daher die Verwendung des Paragrafen 114. Dieser müsse vorsichtig angewendet werden, da der Strafrahmen extrem hoch sei.
Auch Richterin Julia Elsner moniert den Straftatbestand: „Früher konnten wir bei der Bestrafung des Widerstands nach Paragraf 113 abwägen und gegebenenfalls sehr hart strafen, wenn ein Angriff erfüllt war. Nun ist der Begriff des Angriffs in Paragraf 114 ausgegliedert und sehr weit gefasst, aber er wird immer hart bestraft. Wenn wir diesen Paragrafen anwenden, haben wir keine Chance, ein mildes Urteil zu sprechen.“
Jurist: Verschärfung des Paragrafen war falsch
Alleine ist sie mit dieser Sicht nicht. Auch Simon Pschorr, der früher selbst als Staatsanwalt und Richter tätig war und nun als abgeordneter Jurist an der Universität Konstanz arbeitet, sieht den Straftatbestand wie viele seiner Kollegen kritisch. „Der Gesetzgeber hat mit der Ausgliederung von Paragraf 114 auf eine vermeintliche Zunahme von Übergriffen auf Polizisten reagiert. Ich sehe aber mehrere Probleme“, sagt er.

Zum einen sei empirisch nicht nachgewiesen, dass tatsächlich mehr solcher Übergriffe passieren. Zum anderen sei der Strafrahmen mit drei Monaten bis fünf Jahren Freiheitsstrafe sehr hoch. Gleichzeitig sei der Begriff des tätlichen Angriffs sehr weit gefasst, wodurch nahezu jeder Widerstand gegen Polizeibeamte als solcher gelten könnte – nämlich alle Handlungen, die sich gegen den Körper des Polizisten richten, auch wenn sie keine Verletzungen verursachen oder verursachen können.
Werden Polizisten durch das Gesetz übermäßig geschützt?
Die Folge: Schon milde Handlungen wie eine Ausholbewegung oder ein leichtes Touchieren des Polizisten während einer Festnahme können laut Pschorr zu einer Anzeige wegen des tätlichen Angriffs führen. „Damit werden auch Handlungen erfasst, deren Strafwürdigkeit zweifelhaft ist, weil sie ungefährlich sind“, so Pschorr. Ein leichtes Tatschen gegen die Brust eines Polizisten könnte daher härter bestraft werden als ein starker Faustschlag ins Gesicht eines Nicht-Beamten. Der Spielraum der Richter sei extrem eingeschränkt, weil sie Paragraf 113 kaum noch ohne 114 anwenden könnten.
Laut Pschorr müsste daher der Begriff des tätlichen Angriffs eigentlich enger gefasst werden. „Das ist aber politisch schwerer zu vermitteln als eine Ausweitung des Strafrechts“, sagt er. Pschorr wünscht sich daher zumindest den verpflichtenden Einsatz von Bodycams für Polizisten. „Das würde einerseits die Polizisten selbst schützen, aber andererseits auch die Anwendung von Paragraf 114 objektiver und einfacher machen“, sagt Pschorr, der Polizisten mit seiner Einschätzung jedoch nicht unter Generalverdacht stellen möchte und nach eigenen Angaben deren heftigen Alltag kennt.
Angeklagter erhält Verwarnung und 60 Arbeitsstunden
Im Radolfzeller Fall kam Paragraf 114 am Ende jedoch nicht zur Anwendung. Richterin Elsner verurteilte den 19-Jährigen zwar wegen Widerstands und Beleidigung, nicht aber wegen tätlichen Angriffs. Denn die geballte und erhobene Faust sei nicht eindeutig als Teil einer geplanten Ausholbewegung für einen Schlag nachweisbar, sondern möglicherweise nur eine Drohung gewesen.
Nach dem Jugendstrafrecht sprach Elsner eine Verwarnung und die Auflage von 60 Arbeitsstunden aus. Gerettet habe den Angeklagten, der neun Einträge im Bundeszentralregister hat, dabei auch seine Reue und eine Vorstrafe. Denn Anfang Juni saß er zwei Wochen im Jugendarrest in Rastatt. „Es war schrecklich, eingesperrt zu sein. Ich habe dort viel nachgedacht und mich wie ein Verlierer gefühlt, das möchte ich nie wieder erleben“, beschrieb er diese Zeit.
Die Jugendgerichtshilfe und Elsner stuften seine Aussagen als glaubwürdig ein, der Arrest könnte der entscheidende Denkzettel in letzter Minute gewesen sein. „Wenn Sie es aber jetzt nicht packen, ist ihre letzte Chance vertan“, machte die Vertreterin der Staatsanwaltschaft deutlich.